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100 Prozent Bio – nicht gaga sondern notwendig

Eine ökologische Wende als einzig gangbarer Weg

100 Prozent Bio – nicht gaga sondern notwendig
An 100 Prozent Bio führt kein Weg vorbei – da sind sich Grünen-Politikerin Renate Künast und Publizist Bernward Geier einig.

Wollen wir eine lebenswerte Zukunft haben, dann führt an 100 Prozent Bio kein Weg vorbei. Darüber waren sich Grünen-Sprecherin Renate Künast, Naturland-Geschäftsführer Steffen Reese und der ehemalige IFOAM-Präsident Bernward Geier einig. Der Höhepunkt des Anuga Organic Forum 2019 fand vor vollen Sitzreihen statt. Die Expertenrunde diskutierte über die Ernährungs- und Agrarwende und stellte die Frage, wie die Ziele erreicht werden können.

Renate Künast, als Urgestein der Bio-Bewegung, führte im Oktober 2001 das sechseckige Bio-Siegel ein und labelte auf der Anuga öffentlichkeitswirksam das allererste Produkt. Das EU-Bio-Siegel folgte viele Jahre später.

Heute steht sie als Sprecherin für Ernährungspolitik Bündnis 90/Die Grünen immer noch ganz vorne in der Bio-Bewegung. Sie zog jetzt in einer Eingangsrede zur Diskussion ‚100 Prozent Bio – gaga oder machbar‘ ein Resümee der derzeitigen Situation.

Hunger und Mangelernährung, Verlust an Artenvielfalt, Marktkonzentration, Klimakrise – Künast sieht nicht, dass die heutige Politik sich ernsthaft auf die Kernprobleme fokussiere und prangert eine „Freiwilligeritis“ an, etwa bei Reduktionsstrategie oder bei Tierwohllabel. Die Maßnahmen der Bundesregierung bezüglich Landwirtschaft im aktuellen Klimaschutzpaket hält sie für „banale Andeutungen“.

Die Forderung an unser Handeln und Wirtschaften müsse sein: Kein Raubbau an Mensch und Natur. Das beinhalte etwa die Einhaltung der sozialen Sicherung der Menschen und ihrer Würde, Zugang zu Land, Wasser und Saatgut, vor allem auch die Beachtung aller Rechte von Kleinbauern, die 80 Prozent der Welternährung erwirtschafteten.

Volkswirtschaftlicher Wahnsinn

Künast bezeichnete es als volkswirtschaftlichen Wahnsinn, dass Deutschland für ernährungsbedingte Gesundheitsprobleme zig Milliarden Euro aus den Staatskassen zahle und allgemeine Rohstoffe wie Wasser und Erde dem Raubbau frei gebe. Es sei eine echte Marktwirtschaft nötig, die alle Betriebskosten einbezieht, Stichwort ‚Wahre Kosten‘.

Neue Techniken – auch Gentechniken – seien nur neue Komponenten bei der Fortführung des alten Geschäftsmodells. Es brauche eine grundsätzliche Veränderung der globalen Situation und in Deutschland. Momentan würden 15 Prozent Treibhausemission durch Landwirtschaft verursacht, ohne grundlegende Änderungen seien es 80 Prozent in 2050.

Agrarökologie priorisieren

Künast sieht die Notwendigkeit, die Agrarökologie kompromisslos nach vorne zu stellen. Der Bio-Bereich müsse weiter ausgebaut und  im konventionellen Bereich der Raubbau massiv reduziert werden.
Die Grünen-Politikerin definierte auch die Werkzeuge der Umsetzung und erfuhr in der nachfolgenden Diskussion weitgehende Unterstützung durch den Naturland-CEO Steffen Reese und Bio-Pionier Bernward Geier.

Landwirtschaft und Ernährung müssten stärker im Klimapaket implementiert sein. Für Deutschland stelle die notwendige radikale Umstellung auf Öko-Landbau die einfachste Variante für Schutz von Klima und Artendiversität dar.

Trendwende bei den Fördergeldern

Wichtig sei eine Trendwende in den finanziellen Aufwendungen der EU für die Landwirtschaft, ein Ende des Zwei-Säulen-Systems bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Finanzielle Leistungen solle es nur noch jenseits eines gesetzlichen Mindeststandards geben. Ebenso müsse die Umstellungsprämie hochgehen.

Für die konventionelle Landwirtschaft bedeute das, Reduzierung des Pestizideinsatzes, ein Ende der Bodenspekulation. Reese sieht sowohl die Politik als auch die Bauern in der Verantwortung. Gräben müssten überwunden werden, und teilweise fehle es auch am Praxisblick.

Nachhaltige Wirtschaft

Künast verlangte nach Regeln für Landwirtschaft in Natur- und Trinkwasserschutzgebieten, Änderungen der Anforderungen in der Tierhaltung. EU-Handelsabkommen müssten anders funktionieren und sich nach den SDGs (Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen richten, statt Wachstums- und Raubbau-Modelle zu unterstützen. Bernward Geier stellte hier die Grundsatzfrage nach einer notwendigen grundsätzlichen Reformation des Kapitalismus, zum Beispiel in Richtung Gemeinwohlökonomie.

Reese und Künast wiesen darauf hin, wie notwendig solche Schritte, wie die bisher nicht realisierte Unternehmerhaftung in Deutschland und das von den Grünen auf den Weg gebrachte Lieferkettengesetz seien. Auch über eine überfällige Reform des Mehrwertsteuersystems wurde gesprochen und dass das Funktionsinstrument Steuern wieder zur Steuerung genutzt werden müsse.

Die Städte als Motor der Ökologisierung

Wichtiges Thema bei Renate Künast war der „Machtfaktor Stadt“ mit der dortigen Gemeinschaftsverpflegung. Die öffentliche Beschaffung insgesamt, Catering, Bekleidung von öffentlichen Angestellten usw., umfasse 350 Milliarden Euro jedes Jahr in Deutschland.

Hier sei ein enormes Potential für Ökologisierung. Gerade die Städte müssten und sie könnten liefern, von ihnen könne die Ernährungs- bzw. Agrarwende. ausgehen. Nach Meinung der Grünen-Politikerin gehören sie zu den starken neuen Bündnispartnern, die dringend gebraucht werden.

Damit in den Städten die Gemeinschaftsverpflegung erfolgreich und kundenorientiert auf Bio umgestellt werden könne, brauche es Schulung. In Berlin gäbe es seit November 2019 eine Kantine Zukunft, mit dem Ziel 50 Prozent Bio für das öffentliche Essen in der Bundeshauptstadt.

Um Bio in der Gemeinschaftsverpflegung nachhaltig auf den Tisch zu bringen, müsste ein Großteil idealerweise auch in der Region erhältlich sein. Momentan sei nicht nur das nicht ausreichende Rohstoffangebot ein Problem. Es müssten auch die regionalen Verarbeitungsstrukturen geschaffen werden.

Einig über 100 Prozent Bio

Auf dem Podium wurde Einheit betont: Beginnend bei Renate Künasts „100 Prozent Bio ist vor allem absolut notwendig“ bis zu Steffen Reeses „Nicht 100 Prozent Bio sind gaga, sondern sie nicht zu wollen, ist tatsächlich verrückt.“ – er wollte das wortwörtlich im psychiatrischen Sinn verstanden sehen. Es müsse darüber nachgedacht werden, dass die Konzerne ihren Shareholdern verpflichtet seien und nicht der Gesellschaft. Die Konzerne seien unfähig, langfristige Beziehungen (Lieferverträge) einzugehen und gehörten auf die ‚grüne Couch‘.

Der auch als Filmemacher tätige Bernward Geier hatte als seine Inspiration einen Film über Sikkim im Gepäck, das indische Bundesland, welches als erstes auf 100 Prozent Bio umgestiegen ist – und das erfolgreich. Er redete über die Erfolge von Bio in anderen Ländern, wie derzeit 30 Prozent ökologischer Landbau in Ös- terreich, 38 Prozent in Liechtenstein und Samoa, 60 Prozent im Schweizer Graubünden und von einem Programm für 100 Prozent Bio im österreichischen Burgenland. Geier sah sich selbst als Utopist mit Realitätssinn: „Ich denke, wir schaffen das.“

Elke Reinecke

 

Renate Künast:
Renate Künast war von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und von 2005 bis 2013 Vorsitzende der Bundestagsfraktion ihrer Partei. Von 2014 bis Januar 2018 arbeitete sie als Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages.
In ihrer Zeit als Bundesverbraucherministerin führte sie das EU-Bio-Siegel ein, inzwischen ist es eines der meistverbreiteten Siegel für Nahrungsmittel. Heute ist sie Sprecherin für Ernährungspolitik Bündnis 90/ Die Grünen.

Steffen Reese:
Der Agrar-Ingenieur Steffen Reese ist langjähriger Geschäftsführer beim international aufgestellten Bio-Anbauverband Naturland. In Deutschland ist Naturland der zweitgrößte Bio-Anbauverband und zählte 2019 über 4.000 Mitglieder. Auf der ganzen Welt bewirtschaften rund 65.000 Naturland-Bauern in fast 60 Ländern eine Fläche von mehr als 440.000 Hektar.

Bernward Geier:
Der Publizist und Filmemacher Bernward Geier ist seit über 35 Jahren aktiv im Bereich der Landwirtschafts- und Umweltpolitik. Unter anderem wirkte er maßgeblich bei dem TV-Dokumentarfilm über die Agrarrevolution in Sikkim mit (‚Die Ökorebellen vom Himalaya‘).
18 Jahre lang war er als Direktor der IFOAM tätig, der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen.
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