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Pestizid-Zulassung: Technische Verlängerung ist die Regel

88 Prozent der verkauften Pestizide in Deutschland ohne aktuelle Risikoprüfung

Pestizid-Zulassung: Technische Verlängerung ist die Regel © stock.adobe.com/Dusan Kostic

Das Umweltinstitut München hat Pestizid-Zulassungen in der EU untersuchen lassen. Das Ergebnis: Knapp 70 Prozent der chemisch-synthetischen Wirkstoffe waren 2024 durch ‚technische Verlängerungen‘ zugelassen, das heißt vorübergehend ohne neue Risikobewertung. 2023 enthielten in Deutschland 88 Prozent der verkauften Pestizide Wirkstoffe, deren reguläre Genehmigung abgelaufen war. Das Umweltinstitut fordert, die Praxis der technischen Verlängerungen zu beenden und problematische Pestizide schnellstmöglich vom Markt zu nehmen.

Hintergrund der technischen Verlängerungen ist Artikel 17 der EU-Pestizidverordnung, der es erlaubt, eine abgelaufene Genehmigung vorübergehend zu verlängern, wenn eine fristgerechte Neubewertung – etwa durch die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA – noch nicht abgeschlossen wurde. Doch was als Einzelfallregelung gedacht war, ist längst zur Regel geworden: Laut der Analyse im Auftrag des Umweltinstituts wurden allein seit 2011 über 1.300 technischer Verlängerungen erteilt, oft mehrfach hintereinander. In etlichen Fällen liege die letzte Risikoprüfung schon viele Jahre zurück, im Extremfall schon 20 Jahre. In der gesamten EU gebe es derzeit nur drei chemisch-synthetische Wirkstoffe auf dem Markt, für die noch nie eine technische Verlängerung erteilt wurde.

„Die EU-Kommission nutzt eine Lücke in der Pestizidverordnung systematisch, um riskante Stoffe im Verkehr zu halten – zu Lasten von Umwelt und Gesundheit“, sagt Lars Neumeister, Pestizidexperte und Autor der Studie. „Das ist kein bloßer Verwaltungsfehler, sondern eine strukturelle Aushöhlung des Vorsorgeprinzips.“ Neue wissenschaftliche Erkenntnisse – etwa zu langfristigen Gesundheitsrisiken, Umweltbelastung oder Rückständen im Grundwasser – blieben während der Verlängerungsverfahren häufig unberücksichtigt.

Zu den besonders toxischen Wirkstoffen, die trotz abgelaufener Genehmigung weiterhin verwendet werden, gehört der Herbizid-Wirkstoff Flufenacet, dessen Wiederzulassung die EFSA im Herbst 2024 ausgeschlossen hat. Als Abbauprodukt bildet Flufenacet die Ewigkeitschemikalie Trifluoracetat (TFA), die als fortpflanzungsgefährdend gilt und das Grundwasser kontaminiert. Seit fast zehn Jahren läuft die Genehmigung unter technischer Verlängerung. Auch das vermutlich krebserregende Chlortoluron, das im Verdacht steht, die gesunde Entwicklung eines Fötus in der Schwangerschaft zu schädigen und sich in Gewässern kaum abbaut, wird seit knapp zehn Jahren ohne abgeschlossene Risikoneubewertung weiter zugelassen.

Sophia Guttenberger, Referentin für Landwirtschaft am Umweltinstitut, fordert ein grundlegendes Umdenken: „Technische Verlängerungen dürfen nur noch absolute Ausnahmen sein. Die EU muss sich endlich an die gesetzlichen Bewertungsfristen halten und klarstellen: Ohne aktuelle Risikoprüfung darf es keine Genehmigung geben – auch nicht auf Zeit. Was nicht geprüft ist, muss vom Markt genommen werden.“

Die vollständige Analyse finden Sie hier. Sie wertet die Entwicklung technischer Verlängerungen über einen Zeitraum von 13 Jahren systematisch aus – einschließlich der zugrunde liegenden EU-Verordnungen, Verkaufsstatistiken und Risikoeinstufungen.

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