Kunstfleisch
Bio-Reaktor statt Landwirtschaft?
Zelluläre Ersatzprodukte stehen in den Startlöchern
Eier, Käse und Fleisch aus Tanks am Stadtrand anstatt aus Bauernhöfen auf dem Land. Was gestern noch utopisch – oder für andere eher dystopisch – klang, droht Realität zu werden. Vor kurzem hat sich in England die Umweltorganisation Replanet gegründet. Wie NDR Kultur berichtet, will sie 75 Prozent der Erde verwildern lassen und einen Großteil der Lebensmittelproduktion in den Bio-Reaktor verlagern.
Landverbrauch, Tierleid und Transportwege – all das soll durch die industrielle Lebensmittelproduktion Vergangenheit sein. Die Leistungen von Bio-Bauern für Umweltschutz und Artenvielfalt scheinen für junge dynamische Startups keine Alternative mehr zu sein. Anstatt Kühe zu halten, könne man die Welt retten mit der Identifizierung von Genen, die für Milch verantwortlich sind, um sie in Mikroorganismen zu transferieren. Diese sogenannte Präzisionsfermentation sei nachhaltiger und schneller als die herkömmliche Produktion auf dem Bauernhof. Produziert werden tierlose Proteine etwa bereits vom Startup Formo, das zehn Prozent des deutschen Käsemarkts erobern will und 50 Millionen Euro von Investmentfonds erhalten hat.
Die Akzeptanz für zelluläre Ersatzprodukte wächst. Zuletzt forderte sogar Renate Künast, Grünen-Sprecherin für Ernährung und Landwirtschaft, eine ‚Strategie für Proteine der Zukunft‘ aufzusetzen und mehr über kultiviertes Fleisch zu diskutieren. Deutschland dürfe den Anschluss nicht verlieren. „Die Frage ist nicht, ob zellkultiviertes Fleisch kommt, sondern wie“, erklärte ihre Fraktionskollegin Zoe Mayer.
Dabei ist laut einer Veröffentlichung zu zellkulturbasierter Fleischproduktion des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) noch gar nicht klar, ob die anvisierten Produkte überhaupt als Fleisch bezeichnet oder vermarktet werden können.
„Ich bin erstaunt, mit welchem sektoralem Ansatz hier – auch von Renate Künast – argumentiert wird“, kommentiert Agrarwissenschaftler Hardy Vogtmann. Den Erzeugern des Kunstfleisches gehe es in Wirklichkeit nicht um die eventuelle Verbesserung der Tierhaltung und auch nicht um die Volksgesundheit, sondern um Profit und Wettbewerb. Eine Grundsatzdiskussion wie bei der Gentechnik sei nun dringlich.
Dass es um viel Geld geht, bestätigt auch Jörg Reuter, Geschäftsführer des Food Campus Berlin, gegenüber dem NDR. Durch die Reduzierung der Tierhaltung um die Hälfte und den Bedarf an Fleischersatz öffne sich ein „Alternativmarkt von 35 Milliarden Euro – das ist gigantisch viel Geld“. Der Food Campus wolle auch an Fleisch aus dem Bio-Reaktor forschen. Dazu sagt Reuter, man solle sich eine Brauerei vorstellen, wo Bier in Kesseln gebraut wird. So würden irgendwo am Stadtrand Bio-Reaktoren stehen, in denen Lebensmittel produziert werden. Das wäre eher ein industrieller Prozess als ein landwirtschaftlicher. Der Food Campus gibt sich einen ökologischen Anstrich, scheint sich jedoch alle Optionen für die zukünftige Ernährung offen halten zu wollen.
Schließlich sei die Hochzüchtung auf eine fünffache Milchproduktion im Euter heutiger Hochleistungskühe auch weit weg vom Ursprung. „Daher sollten wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, was eigentlich natürlich ist“, so Viktoria Reinsch, Director Brands & Communication bei Formo.
Was auch die Verfechter der hochlukrativen neuen Technologie nicht wegreden können, ist der enorme Strombedarf, der für Bio-Reaktoren benötigt wird. Die Antwort Replanets dazu: Atomenergie. Auch wird Fermentations-Masse aus einer wie auch immer gearteten Landwirtschaft benötigt. Das Futter für die Zellen oder Mikroorganismen fällt nicht vom Himmel. Aus Nichts wird nichts! Ob dann noch auf die Qualität der eingesetzten Feldfrüchte, frei von Gentechnik, Agrochemie und Pestiziden geachtet werden würde, müssen die selbsternannten Planetenretter beantworten.
Die stereotype Falschbehauptung, dass künstliche Nahrungsmittel gesünder seien, ist nicht belegt. Wie auch? Bisher ist eine Zulassung für das Kunstfleisch – und damit eine legale Verkostung – nur in Hongkong erfolgt. Gerade ist die Bürgergesellschaft dabei, die Fehlentwicklungen mit Kunstdünger, Pestiziden und künstlichen Zusatzstoffen zurückzudrehen, da kommt das Großkapital mit neuen Monopolmärkten – der Pharmariese Merck liefert die Nährlösungen – daher.
Die Biobranche hat sich des Themas Kunstfleisch bisher nur sehr wenig angenommen. Die Protagonisten für Nahrung aus massenhaft Bio-Reaktoren drehen an vielen Stellschrauben und setzen unglaubliche Hebel in Bewegung. So geht die Aussage, nur so sei der Planet zu retten, einher mit der perfiden Gleichsetzung von fermentierten Ersatzprodukten aus pflanzlichen Proteinen mit dem Wachstum einer der Kuh entnommenen Zelle im Bio-Reaktor.
Lena Renner