Nachhaltigkeit
Wachstumsparadigma behindert nachhaltigen Systemwandel
Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit sammelt Expertenmeinungen in fünf EU-Ländern

Bedürfnisbefriedigung und Wohlergehen statt Wirtschaftswachstum: Dieses Leitbild für eine Neugestaltung der Versorgungssysteme propagiert eine Studie des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam. Um herauszufinden, wie sich klimakompatible Lebensstile in Europa ermöglichen lassen, haben die Autoren Experten aus Thinktanks, Politik und Zivilgesellschaft in Deutschland, Lettland, Schweden, Spanien und Ungarn befragt. Zu den gemeinsamen Handlungsempfehlungen gehört auch die Förderung von Bio und pflanzlichen Lebensmitteln.
„Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, müssen wir die derzeitigen Produktions- und Konsummuster in den vier zentralen Versorgungssystemen Ernährung, Mobilität, Wohnen und Freizeit ändern“, erklärt die Erstautorin Halliki Kreinin vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit – Helmholtz-Zentrum Potsdam (RIFS).
Als größtes Hindernis für eine Transformation der Versorgungssysteme hoben die befragten Experten das Paradigma des Wirtschaftswachstums hervor. Dies sei ein so wirkmächtiges Narrativ, dass Akteure in allen Gesellschaftsbereichen es undifferenziert als Handlungsziel übernommen hätten – selbst alternative Politiker der deutschen Grünenpartei.
Da es mit Veränderungen hin zur Nachhaltigkeit häufig kollidiert, schlagen die Befragten als alternatives Leitbild die Befriedigung von Bedürfnissen und das Wohlergehen aller vor. Dazu gehöre es auch zu akzeptieren, dass einige schädliche Industrien und Technologien verschwinden. Viele erachten in einigen Bereichen Verbote, Grenzwerte und Steuern für notwendig.
„Zurzeit stehen Klima- und Wirtschaftspolitik häufig im Konflikt miteinander“, sagt Doris Fuchs, RIFS-Direktorin und Ko-Autorin der Studie. „Ein wichtiger Schritt wäre schon geschafft, wenn der Erwerb und die Nutzung von extrem umweltverschmutzenden Waren und Dienstleistungen wie Privatjets, privater Raumfahrt oder Geländewagen eingeschränkt oder mit starken finanziellen Negativanreizen belegt würde.“
Die Regierungen müssten den Einfluss mächtiger Interessengruppen wie der fossilen Industrie oder großen Einzelhandelsunternehmen eindämmen und wirtschaftliche Anreize für Investitionen in nachhaltige Technologien und Produkte setzen. Außerdem sollten Umweltkosten bei den Preisen berücksichtigt werden, zum Beispiel durch niedrigere Steuern auf Arbeit und höhere Steuern auf Energieverbrauch.
Als ‚weiche Faktoren‘ nannten die Befragten die Stärkung alternativer Narrative und Indikatoren für ein gutes Leben. Auch das Problem der Ungleichheit kam oft zur Sprache. Ärmere Bevölkerungsgruppen seien am meisten vom Klimawandel betroffen, hätten aber gleichzeitig zu wenige Ressourcen, um sich zu engagieren. Die Politik müsse ihnen mehr Teilhabe ermöglichen.
Mit Blick auf das Lebensmittelsystem fordern die Experten unter anderem die Förderung pflanzlicher und biologischer Produkte – zum Beispiel durch die Befreiung von der Mehrwertsteuer. Es seien Maßnahmen nötig, damit Bio-Kleinbauern im Wettbewerb neben Agrarkonzernen bestehen können. Umweltschädliche Subventionen müssten durch Anreize für eine nachhaltige Landwirtschaft ersetzt und die Unabhängigkeit der Politik von privatwirtschaftlichen Interessen sichergestellt werden. Statt der Unternehmenslobby sollten Experten und Umweltlobbyisten mehr politisches Gehör finden.
Die Studie ‚Versorgungssysteme umgestalten, um 1,5-Grad-kompatible Lebensstile in Europa zu ermöglichen‘ entstand im Rahmen des Projektkonsortiums ‚EU 1,5° Lebensstile‘, das vom RIFS koordiniert wird. Auch die Universitäten in Münster, Siegen und Leeds waren an der Arbeit beteiligt. Für die Studie wurden Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Medien befragt – 20 bis 30 pro beteiligtem EU-Land.