Ernährungswende
Pflanzlich-natürlich in eine neue Ernährungsumgebung
Online-Podium zur Kulinarik im 21. Jahrhundert

Wie gewinnen wir Klarheit über Wahre Preise? Was muss sich in Politik und Gesellschaft ändern, damit die Ernährungswende gelingen kann? Und wie genau soll die Ernährung der Zukunft aussehen? Bei der Online-Veranstaltung ‚Kulinarik im 21. Jahrhundert‘ diskutierten Experten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft über den Weg in ein modernes, nachhaltiges Agrar- und Ernährungssystem. Über 200 Interessierte nahmen teil und konnten sich per Chatfunktion einbringen. Veranstalter waren die Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL) und die Grünen im Europäischen Parlament.
Einstieg und Diskussionsaufhänger bot eine Studie der Universitäten Augsburg und Greifswald in Kooperation mit dem Discounter Penny, die bereits im September 2020 veröffentlicht wurde. In seinem ‚Nachhaltigkeitsmarkt‘ in Berlin hatte Penny auf Grundlage der Studie bei 18 verschiedenen Lebensmitteln die ermittelten ‚wahren Preise‘ neben dem tatsächlichen Verkaufspreis ausgeschildert. So wurden den Verbrauchern der Unterschied in den externen Kosten der konventionellen und biologischen Erzeugung sowie die hohen Folgekosten tierischer Produkte vor Augen geführt. Der Bundesverband für Naturkost und Naturwaren e.V. (BNN) begrüßte die Aktion.
Im Publikum und bei Referenten der Veranstaltung stieß die Studie nun allerdings auch auf Kritik. Studienautorin Amelie Michalke, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Greifswald, erklärte, wie die Annäherung an die wahren Preise anhand von vier verschiedenen Treibern ermittelt wurde: Stickstoffderivate, Treibhausgasemissionen (THG), Landnutzungsänderungen und Energie. Im Ergebnis stach vor allem der Unterschied von pflanzlichen zu tierischen Produkten ins Auge: Liegen erstere alle im unteren Cent-Bereich (auch eine konventionelle Banane etwa nur bei 20 Cent), reichen die Kosten der Tierprodukte von Bio-Milch (75 Cent) bis zu Fleisch (rund zehn Euro).
Bio schnitt überall besser ab als konventionell – nicht jedoch bei Tomaten und Fleisch, was zu Unverständnis und Rügen im Chat führte. Einige wichtige Treiber wie Pestizide und Antibiotika wurden in der Studie mit Begründung einer noch unzureichenden Datengrundlage nicht berücksichtigt. „Auch Tierwohl und faire Arbeitsbedingungen sind nicht miteinbezogen – da gibt es natürlich noch große Limitationen“, räumte Michalke offen ein.
Die Kostenverursacher müssen sich anpassen
„Wenn wir alles miteinrechnen – den Verlust an Biodiversität, Klimakosten und Gesundheitskosten – dann ist Bio im Endeffekt billiger als konventionell, davon bin ich fest überzeugt“, betonte Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Europagrünen. Außerdem verkaufe sich der Handel mit Kampagnen wie der von Penny gut – „aber was macht er am Ende?“ Viel werde in Werbung investiert, dabei müsse auch der Handel endlich glaubwürdig zeigen, dass er es mit der Veränderung ernst meint.
„Wir sitzen immer noch auf der falschen Agrarpolitik“, bedauerte Häusling mit Blick auf die Situation in Brüssel. 75 Prozent der Gelder würden weiterhin nach Flächen statt nach Leistung verteilt. „Alle wissen, was sich ändern muss – und am Ende macht die Politik das Gegenteil.“ Jeder Bio-Bauer bedeute ein Minus für die Agrarindustrie, die sich daher mit einer Lobbyschlacht wehre und den falschen Glauben verbreite, dass Bio die Ernährung in Europa nicht sicherstellen könne.
„Kein Transformationsprozess geht ohne Verlierer“, stimmte Dr. Alexander Beck, Geschäftsführer der AöL, zu. Die Verursacher seien gezwungen, ihre Wirtschaftsmodelle anzupassen. Den Verbrauchern müsse dafür die Wahrheit vermittelt werden, wozu auch gehöre, dass es ohne Suffizienz, also eine Begrenzung nicht geht. Die materiell fokussierte Glücksvorstellung der Gesellschaft müsse sich ändern und es brauche eine Modernisierung der Ernährungsstile.
Humus, Kimchi und faire Ernährungsumgebung
Wie diese Kulinarik des 21. Jahrhunderts genau aussehen könnte, wurde von Prof. Dr. Carola Strassner von der Fachhochschule Münster und Prof. Dr. Britta Renner von der Universität Konstanz näher erläutert. Eine Inspiration für die Substitution tierischer Produkte kann für Strassner der Blick auf andere Traditionen sein: etwa Humus aus Kichererbsen oder Kimchi aus fermentiertem Gemüse. Eine Vielzahl von Leguminosen und die Praxis der Fermentation, die auch bei uns mit Sauerkraut bereits etabliert ist, biete viel noch wenig genutztes Potenzial.
Aus psychologischer Perspektive muss die Transformation von „fairen Ernährungsumgebungen“ begleitet werden, wie Britta Renner erläuterte. Transparente und einfach zugängliche Informationen über Produkte, soziale Normen, kleinere Portionsgrößen, Preisanreize und Werbebeschränkungen könnten die gesellschaftliche Umstellung erleichtern.
Die Lebensmittelkennzeichnung Nutri-Score als Entscheidungshilfe ist für Europaparlamentärin, Köchin und Bio-Bäuerin Sarah Wiener dabei zu kurz gedacht und in ihrer aktuellen Machart sogar „gefährlich“. Durch die fehlende Miteinbeziehung des Verarbeitungsprozesses und den reinen Fokus auf bestimmte Nährwerte könnten im Endeffekt auch noch chemischere Produkte mit krebserregendem Zuckerersatz, Emulgatoren und anderen Zusatzstoffen besser abschneiden. Diese Angst vor Vereinfachung teilt Andreas Swoboda, Geschäftsführer der Bio-Bäckerei ‚Bio Breadness‘. Das Thema sei komplex und Label könnten leicht zu Fehlleitungen führen.
Mehr pflanzlich, aber ohne Entfremdung
Darüber, dass der Weg zu einer pflanzlicheren Ernährung dringend notwendig ist, bestand unter den Referenten Einigkeit. „71 Prozent der in der Lebensmittelproduktion verursachten Treibhausgase werden durch tierische Produkte verursacht, sie liefern aber nur 30 Prozent der Kalorien“, klärte Michalke auf. Dennoch wurde der aktuelle Vegan-Trend der Jugend als zu einseitig kritisiert. „Die Leistung der Kuh für die Biodiversität ist bei den Leuten nicht präsent“, meinte Swoboda und warnte vor einer Entfremdung der Gesellschaft von der Landwirtschaft. Auch Häusling wies auf die Bedeutung von Wiederkäuern für den Humusaufbau und der 40 Prozent Grünland als Kohlenstoffspeicher hin. Solle man das alles in Sojaanbauflächen umwandeln?
Dass es auf deutscher Ebene mit der neuen Regierung Unterstützung für die Ernährungswende geben werde, versprach die parlamentarische Staatssekretärin Dr. Ophelia Nick. Die Rahmenbedingungen für 30 Prozent Ökolandbau sollen gesetzt, neue Lebensmittelkennzeichen überlegt und das Thema Wahre Preise angegangen werden. Speziell in öffentlichen Kantinen wolle man den Ökoanteil heben und eine gesunde, regionale Ernährung forcieren.
Eine Aufzeichnung der gesamten Veranstaltung kann auf dem YouTube-Kanal der AöL nachgeschaut werden.
Lena Renner