Agrarpolitik
Backnatron gefährlicher als synthetische Pestizide?
Irreführender Indikator bedroht Pestizidreduktion und Biolandwirtschaft in der EU
Gestern hat der Rat der Europäischen Union die Verhandlungen über ‚Ziele und Indikatoren‘ für die Verordnung zur nachhaltigen Nutzung von Pestiziden (SUR) eröffnet. Die Europäische Bürgerinitiative ‚Bienen und Bauern retten‘ und der Bio-Dachverband IFOAM Organics Europe warnen derweil vor einer drohenden Desinformation der Menschen in Europa mit möglicherweise verheerenden Folgen für die Umwelt. Der Indikator, den die EU-Kommission zur Messung des Fortschritts bei der Pestizidreduktion vorgeschlagen hat, sei grob fehlerhaft und irreführend.
„Der Mogel-Indikator der EU-Kommission schafft die Illusion einer Pestizidreduktion auf dem Papier, während Einsatz und Risiko von Pestiziden auf dem Feld sogar zunehmen können“, so Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei Global 2000 und Sprecher von ‚Bienen und Bauern retten‘. Tatsächlich belohne das schlecht konzipierte Messinstrument die Verwendung von besonders giftigen chemisch-synthetischen Pestiziden, sodass Bienensterben und die Kontamination von Wasser und Böden damit sogar weiter zunehmen könnten.
Die österreichische Umweltschutzorganisation Global 2000 hat ein fünfminutiges Video veröffentlicht, in dem die zwei konzeptionellen Fehler des sogenannten ‚Harmonised Risk Indicators 1‘ (HRI) erläutert werden. So habe ein kürzliches EU-weites Verbot des bisher meistverkauften Pestizids zu einer illusorischen Pestizidreduktion von rund 60 Prozent in nur einem Jahr geführt – eine Reduktion, die nur auf dem Papier existiere, da der verbotene Wirkstoff umgehend durch Vergleichbare ersetzt wurde. Außerdem werde etwa das im Ökolandbau verwendete Fungizid Natriumhydrogencarbonat (Backnatron / Speisesoda), ein ausgewiesenes ‚Niedrig-Risiko-Pestizid‘, nach dem HRI 1 als achtmal riskanter als das nachweislich gefährliche Pestizid Difenoconazol, ein Substitutionskandidat, eingestuft.
Es sei dringend nötig, diese konzeptionellen Fehler zu korrigieren. Andernfalls werde der vorgeschlagene Indikator Anreize schaffen, die den beiden Hauptzielen der Farm-to-Fork-Strategie zuwiderlaufen: der Reduktion von Pestiziden und der Ausweitung des Ökolandbaus.
„Als Dachverband für die europäische Biolandwirschaft haben wir alle Mitgliedstaaten über dieses Problem informiert und eine Lösung vorgeschlagen. Nun liegt es an den Agrarminister:innen im Rat, die Mängel des Indikators entsprechend zu korrigieren“, sagt Eric Gall, stellvertretender Direktor von IFOAM Organics Europe.
Einen Vorschlag, der die Mängel durch die Einbeziehung bereits vorhandener Daten aus dem EU-Zulassungsverfahren für Wirkstoffe beheben könnte, gebe es bereits, erklärt Burtscher-Schaden. Dieser sei von Experten des deutschen Umweltbundesamtes in Anlehnung an etablierte Pestizid-Indikatoren wie dem dänischen Treatment Frequency Index (TFI) und dem französischen NODU (Number of Unit Doses) entwickelt und von der Europaabgeordneten Sarah Wiener, Berichterstatterin für die SUR, unterstützt worden.
Am 24. Oktober findet im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments eine vorentscheidende Abstimmung zum SUR-Indikator statt. ‚Bienen und Bauern retten‘ sowie IFOAM Organics Europe appellieren an alle Entscheidungsträger im Parlament und im Rat, kein Messinstrument zu verabschieden, das die Pestizidreduktionspläne der EU ad absurdum führen würde.