Nachhaltigkeit
Chemie – Fluch und Segen?
Grüne Bundestagsfraktion veranstaltet Fachgespräch zur Weltchemikalienkonferenz

Chemische Stoffe bringen viererlei Nutzen für die Gesellschaft, haben aber gleichzeitig schädliche Auswirkungen für Umwelt und Gesundheit. Ist ein nachhaltiger Umgang mit synthetischen Stoffen möglich? Wie schafft die internationale Gemeinschaft die Transformation in eine giftfreie Kreislaufwirtschaft? Und wie lässt sich die Wende finanzieren? Als Vorbereitung auf die Bonner Weltchemikalienkonferenz Ende September organisierte die grüne Bundestagsfraktion Ende Juni ein hybrides Expertengespräch in Berlin.
Als dritte planetare Krise neben Biodiversitätsverlust und Klimawandel bezeichnete Bettina Hoffmann, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesumweltministerin, die Schadstoffbelastung. Die planetare Grenze für Chemikalien wurde 2022 überschritten, wie Armin Grau, Berichterstatter der Grünen für Chemikalienpolitik, erläuterte. „Von einer giftfreien Kreislaufwirtschaft sind wir weit entfernt“, bedauerte er. Auch ein internationales Rahmenabkommen fehle bislang.
„Die WHO schätzt, dass jährlich über zwei Millionen Menschen als direkte Folge vom Kontakt mit giftigen Chemikalien sterben“, sagte Anita Breyer, Präsidentin der 5. Weltchemikalienkonferenz (ICCM5), über das Ausmaß des Problems. Gut die Hälfte davon komme über die Arbeit mit Chemikalien in Berührung und 85 Prozent der Todesfälle ereigneten sich in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Auch finanzielle Einbußen könnten mit Blick aufs Bruttoinlandprodukt damit in Zusammenhang gebracht werden.
„Die Chemieindustrie trägt als ein Hauptverbraucher fossiler Energie wesentlich zur Klimakrise bei“, führte Ulrike Kallee, Leiterin der Abteilung Stoffe und Technologien beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), einen weiteren Punkt an. Schädliche, nicht mehr rückholbare Ewigkeitschemikalien häuften sich auch in Deutschland und Europa an.
Und im Globalen Süden ist die Lage noch viel schlimmer, wie Alexandra Caterbow, Co-Direktorin des Vereins für Gesundheits- und Umweltgerechtigkeit HEJSupport, klarmachte. „Viele Länder dort sind unsere Müllkippe“, kritisierte sie. So würde Gold mit Hilfe von giftigem Quecksilber abgebaut und dann bei uns verbraucht. Auch Asbest, das in Deutschland bereits seit 1993 generell verboten ist, werde immer noch in vielen Ländern verwendet. „Das Thema sollte eigentlich längst gelöst sein“, bedauerte sie.
Chemikalien nachhaltig managen
Dennoch: Ohne Chemie können wir nicht leben, so der Konsens unter den Referenten. „Chemikalien können Leben retten und verbessern, aber wir müssen sie weise nutzen, mit der erforderlichen Sorgfalt behandeln, ihre Risiken reduzieren und das Freisetzen in der Umwelt verhindern“, fasste Breyer den Anspruch an ein nachhaltiges Chemikalienmanagement zusammen.
Ebendies soll bei der 5. Weltchemikalienkonferenz, die Ende September in Bonn stattfindet, vorangebracht werden. Mit der Weiterführung von SAICM, dem strategischen Ansatz für internationales Chemikalienmanagement, soll dort ein neuer Rahmen gesetzt werden – wenn er auch weiterhin auf Freiwilligkeit beruhen werde.
Regulierung oder Anreizsysteme?
Was braucht es, um den Chemiesektor zu transformieren? Gesetze, Beschränkungen, Verbote und Unterstützung für einkommensschwache Länder, so die Antwort von Bettina Hoffmann. Auch das Prinzip ‚sustainable by design‘ wurde von verschiedenen Referenten als wichtiger Pfeiler zur Transformation hervorgehoben. „Über Regulierung ändert man das System nicht“, meinte Sonja Jost, Gründerin und CEO des Berliner Startups für nachhaltige Chemie DexLeChem. Besser sei es, umweltfreundliche Produkte zu fördern, Nachhaltigkeit als Wettbewerbsvorteil voranzubringen und damit die Kreativität der Chemiker in die richtige Richtung zu lenken. Europa hinke der USA, was grüne Chemie-Startups angeht, bisher hinterher – auch Deutschland als eine der größten Chemienationen. Dabei werde die neue Industrie eine nachhaltige sein, ist Jost überzeugt.
„Mit Ordnungsrecht setzt man auch Impulse – etwa zur Substitution von Verbotenem“, wandte die ICCM5-Präsidentin Breyer ein. „Je besser der Rahmen, umso innovativer kann die Chemieindustrie sein“, fügte die BUND-Expertin Kallee hinzu. Eine Mischung aus Push- und Pull-Strategie schlug Jost als Kompromiss vor: Marktanreize für neue nachhaltige Erfindungen auf der einen und Regulierung auf der anderen Seite.
Mehr Aufmerksamkeit, mehr Ressourcen
„Ohne Geld geht es nicht voran“, sprach Caterbow einen weiteren Knackpunkt an. Anstatt dass die gesamte Gesellschaft die Quittung für die negativen Folgen zahle, brauche das internationale Chemiemanagement eine seriöse Finanzierung. Sie forderte dafür einen globalen Fonds, der zum Beispiel über Gebühren auf die Chemieproduktion finanziert werden könnte.
Es sei allerdings enorm schwierig, Finanzmechanismen global zu etablieren, merkte dazu Breyer an. „Wir müssen in der politischen Agenda nach oben klettern“, schlug sie als realistischere Option vor. Wenn das Thema allgemein verständlicher würde, anstatt sich im Expertensprech zu verlieren, und die Verantwortlichkeiten deutlich würden, dann könne man hoffentlich auch die Geldmaschinerie in Gang setzen. „Die Brisanz des Problems muss erkannt werden“, stimmte Hans-Christian Stolzenberg, Leiter für Internationales Chemikalienmanagement am Umweltbundesamt, zu. Die Konferenz in Bonn sei eine wichtige Voraussetzung dafür, die Ressourcen steigern zu können. Und mit mehr Ressourcen ließe sich langfristig auch mehr Verbindlichkeit erreichen.
Alle an einen Tisch
„Damit wir Geld bekommen, müssen wir liefern“, fügte Caterbow hinzu. Mit einer immer größeren Chemieindustrie würden die Verhandlungen immer schwieriger. Es sei daher unbedingt zu vermeiden, dass wir nach Bonn noch schlechter dastehen als vorher. Voraussetzung für eine erfolgreiche Konferenz seien gute Vorgespräche und Länder, die mit gutem Beispiel vorangehen. „Dieser Spirit fehlt momentan noch.“
„Wir müssen uns auch in Deutschland alle an einen Tisch setzen“, bestätigte Kallee. Die Chemieindustrie müsse mit im Boot sein, damit Umbau und Finanzierung gelingen. „Deutschland wird hoffentlich ein zentraler Architekt dieser Brücke.“
Die Chance sei groß, das Thema in Bonn in einem Multi-Stakeholder-Prozess weiterzubringen, fasste der Grünen-Berichterstatter Grau abschließend zusammen. „Verspielen wir sie nicht – wir können es schaffen!“, rief Caterbow auf.
Lena Renner