Editorial
Editorial Ausgabe 118/Januar 2024, 1. Quartal
Liebe Leserinnen, liebe Leser.
Was macht Bio zukunftsfähig? Genossenschaftliche Strukturen für den Naturkostfachhandel, der in der Identitätskrise steckt, oder eine Biovorstufe für ALLE genossenschaftlich organisieren, wie das vor Jahrzehnten die Kaufleute taten und Einkaufsgenossenschaften wie Edeka oder Rewe gründeten?
Die Bio-Branche gibt es nicht mehr! So die heiße Botschaft bei den Öko-Marketingtagen auf Schloss Kirchberg aus den Reihen des Naturkostfachhandels. Angesichts des Bio-Umsatz-Rückgangs um 3,8 Prozent diskutierten Insider aus allen Bereichen des Lebensmittelhandels das Thema ‚Zeitenwende in der Bio-Branche: neue Märkte, neue Strategien‘. Die Bio-Marken-Anbieter suchen ihr Heil in der Flucht in den LEH. Und sehen dort: Die Bio-Verbände sind in den Eigenmarken des Handels schon längst angekommen.
Es geht heute um abgelaufene Schonfristen. Der Naturkostfachhandel scheint seine wahre Stärke nicht zu kennen: das Bio-Vollsortiment. Damit landet er in der Wirklichkeit von nur mehr 20 bis 25 Prozent vom Bio-Umsatz. Und in der Krise laufen ihm die Kunden davon zu vermeintlich billigeren Bio-Preisen bei Wettbewerbern im Handel. Doch Achtung, der LEH/SEH ist teurer. Aber der Discounter macht es vor. Mit seinen Strukturen kommt er auch bei Bio zu günstigeren Preisen, die sich rechnen. Das findet sich durchaus genauso wieder im Naturkostfachhandel bei Dennree und Alnatura oder den Eigenmarken der Fachhandelsverbünde. Echt Bio ist plötzlich zu teuer? Jedenfalls hat es in der Krise den Anschein.
Es verhält sich so: Straffe Handelsstrukturen bringen mehr vom Gleichen. Vom Vollsortimenter wird jedoch Bio-Vielfalt erwartet, nicht nur ein wenig von allem und Frische fehlt streckenweise oder gänzlich. Dabei muss sich mancher Hersteller vom Einkäufer im LEH provozieren lassen: Deine Schonfrist ist bald vorbei! Bio soll den herkömmlichen Strukturen ‚immer billiger immer besser‘ (für den Handel) unterworfen werden, anstatt echte Nachhaltigkeit im Handel zu üben und dessen Vorteile wirklich zu leben. Das ist systemimmanent, der Einkäufer kann nichts dafür.
Noch wird Bio wegen der Wachstumsraten gebraucht und daher hofiert. Könnte Bio mit der richtigen Strategie die Machtstrukturen drehen, das Sagen behalten und der Unterwerfung entgehen? Das Bio-Smiley der Aldi-Eigenmarke soll heute bekannter sein als das EU-Bio-Siegel. Hat das mit Glaubwürdigkeit von Aldi zu tun oder schlicht mit der massenhaften Präsenz vor dem Verbraucher, die Aldi zum größten deutschen Bio-Vermarkter gemacht hat? Und zeigt das nicht auch, dass die Speerspitze für Bio in den Händen der Verbraucher liegt und schon immer lag und nicht an Ideologie gebunden ist? Auch ein Discounter kann Bio-Mehrwerte vermitteln. Jeder hat seine Zielgruppe, die er leichter erreichen kann.
Wo bleibt Bio in Zukunft? Einzelne Marken haben sich gut angepasst und erreichen traumhafte Umsatzsteigerungen, auch in der Krise. Auf Produktebene scheint einiges zu gehen. Bio-Vollsortimente sind jedoch mit einigen wenigen Marken nicht zu machen.
Warum sollen Menschen Bio essen? Und über welchen Weg kommen Bioprodukte dann auf die Teller? Reicht mehr Pflanzen essen, dafür weniger Fleisch, um das Klima zu retten? Die Märchen vom Bio-Idyll greifen zu kurz. Die Fakten vom Versagen der Stickstoffdüngung, die den Kohlenstoff aus dem Boden verdrängt und das Klima schädigt, müssen sichtbarer werden. Und die Wahrheit über die Kuh als Klimaretter, wenn sie auf der Wiese steht, anstatt Kraftfutter zu Methan verdauen zu müssen. Die Kenntnis vom Edaphon – das Bodenleben, Pendant zum Ozean – fehlt gänzlich. Die gesundheitliche Bedeutung vom Biom im Boden und seine Beziehung zur Verdauung und der Leistungsfähigkeit des Gehirns zeigen eher, wie wichtig lebendige Böden sind, als Bio-Bauernbilder von der Kreislaufwirtschaft. Aber dass wahre Faktoren von naiven Geschichten verdrängt und damit einfach vergessen wurden, darauf muss man erst einmal kommen.
Es ist nicht die Aufgabe der Kaufleute, die Rückbesinnung zu erarbeiten. Aber die Kaufleute stehen im täglichen Kontakt mit 80 Millionen Verbrauchern. Aldi mit der angekündigten Aufklärungsstrategie oder die Kampagne des Landwirtschaftsministeriums erreichen vielleicht die Herzen. Nötiger als nur sympathische Geschichten wären grundlegende Erkenntnisse, mit denen Kaufleute in ihrem Alltag ideologiefrei den Verstand der Verbraucher nachhaltig erobern können. Leicht verständlich den Nutzen für alle zugänglich machen, das brächte Bewegung in die Regale.
Die Biofach-Sonderschau Meetingpoint BIOimSEH hat sich zum Ziel gesetzt, dem Kreis von Kaufleuten einen Dialog anzubieten, die ihr Bio-Angebot ebenbürtig mit ihrem qualitätsorientierten Vollsortiment organisieren wollen. Neue Wege der Bio-Vermarktung durch Solidarität mit den freien Kaufleuten finden: Das könnte die Brücke zu 30 Prozent Bio werden.
Erich Margrander
Herausgeber