Editorial
Editorial Ausgabe 104/Juli 2020, 3. Quartal
Liebe Leserinnen, liebe Leser.
Covid-19, so der heraus kristallisierte Name der Krise, hat die Welt entschleunigt. An einigen Stellen sogar angehalten. Die Gastronomie beispielsweise total geschlossen und die Menschen in Deutschland an die eigenen Kochtöpfe getrieben. Die Ströme der Lebensmittelversorgung weg vom Großverbrauch und rein in die Regale der Supermärkte trugen zur allgemeinen Verwirrung bei. Den sichtbaren Engpässen schreibt man jedoch noch andere Ursachen zu.
Die hastigen Rufe nach mehr Regionalität, weniger Abhängigkeit von weiten Lieferwegen, lassen außer Acht, dass beispielsweise in Italien wegen der vielen Sonnenstunden bis zu 50 mal mehr Obst und Gemüse wächst als hier im relativ kalten Norden Europas. Regionale Lebensmittel kaufen trägt natürlich zu weniger Umweltbelastung bei. Die Versorgung nur aus der Region könnte jedoch in dem Moment schief gehen, wenn Naturkatastrophen Ernten vernichten. Ein wichtiger Grund, weshalb die Menschheit Tausch und Austausch entwickelt hat und auch dabei bleiben sollte.
Weg von der Substitution hin zu vielfältigem Handel hat unerfreulicher Weise falschen Kräften Tür und Tor geöffnet. So ist unfassbar, dass der wichtigste Regenwald der Welt abgeholzt wird, um hier Futter für regionale Tiermast im großen Stil zu beschaffen, Produkte billig zu machen mithilfe von Betrug an der Natur und an Menschen. Das aber hat mit Corona weniger zu tun.
Dass die Epidemie doch zusammenhängt mit unserem Umgang mit den Naturressourcen beschreibt Volkert Engelsman in dieser Ausgabe. Er hofft, dass nach der Krise nicht einfach wieder an die Zeit vor der Krise angeknüpft wird. Sie lässt viele hässliche Fratzen sichtbar werden und trägt zu einem neuen Schub in der Biobranche bei, so wie dies in Krisen immer wieder zu beobachten war.
40 bis 50 Prozent mehr Bio-Umsatz geht unter im noch größeren Plus bei den herkömmlichen Lebensmittelmengen. Was jedoch vorher in der Außer-Haus-Verpflegung möglicherweise an billigem Essen auf den Tellern hingenommen werden musste - es gab einfach zu wenig Bioangebote unterwegs - hat beim Einkauf für die eigene Küche eine andere Gewichtung sichtbar gemacht. Nicht jeder kocht, wenn die eigene Kreativität walten muss, so abscheulich primitiv wie allzu oft die Gemeinschaftsverpflegung und Gastronomie.
Es soll hier nicht übertrieben werden. Corona wird die Welt nicht von heute auf morgen retten. Dennoch sind in dieser Zeit Entwicklungen in mehr Ernährungssicherheit zugange, die nicht nur nach genügend Nahrung für die Hungernden ruft, sondern auf die annähernd eine Million Todesfälle pro Jahr allein in Europa aufmerksam macht, aufgrund von industrieller Fehlernährung und belasteten Lebensmitteln. Man kann also sterben vor vollem Kühlschrank. Wir machen uns die Erde untertan und bringen Menschen damit um. So war der Satz nicht gemeint.
Die Wertschöpfung vom Acker bis auf den Teller beachten heißt, dass alle beteiligten Stationen Verantwortung tragen müssen. Stellt sich die Frage, wer sind die Beteiligten? Wie stellen sie sich dieser Aufgabe? Und was können Sie überhaupt tun?
Da war zu Zeiten des immer billiger, immer besser plötzlich die Vision von Lust auf Genuss. Und wo ist der bessere Geschmack? Da hat sich etwas verändert. Jetzt kommen viele auch zu der Erkenntnis, dass Genuss nicht billig zu haben ist. Die Formel, wer gesunde Lebensmittel handelt, erhält mehr Wertschöpfung, lockt Kaufleute mit Köpfchen zu neuem Handel(n). Masse ist nicht mehr das alleinige Erfolgsrezept.
Hier schließt sich ein erster Kreis (von vielen). Wachstum auf Teufel komm raus könnte Konkurrenz bekommen. Fragt sich nur, funktioniert das auch auf Dauer oder fallen die Leute nach der ersten Euphorie zurück in die Billigmasche? Die Klimakrise verändert das Wirtschaften. Das wird nicht nur auf die Industrieproduktion beschränkt bleiben.
Erste Anzeichen zeigen, dass in Europa auch ein Umdenken in der Landwirtschaft eingesetzt hat. Da ist etwa der europäische Green Deal. Bayern will 30 Prozent Biolandbau bis 2030! Wo bleibt da das reiche Baden-Württemberg mit seinem Ehrgeiz? Kein europäisches Land wird zuschauen und irgendeine Entwicklung verpassen wollen. Wachstum verlangt nach mehr. Doch was ist, wenn mehr Qualität erzeugt wird? Das ist dann auch ein Gewinn, ohne dabei die Mengen hoch zu schrauben und damit der Natur zu schaden.
Erich Margrander
Herausgeber