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Bio am Scheideweg

Über die Entwicklungsfähigkeit der Branche

Die Bio-Branche ist aus der Natur- und Umweltbewegung der letzten beiden Jahrhunderte entstanden. Sie war Gegenbild einer industrialisierten und naturfernen, modernen Lebensmittelwirtschaft. Die Industrialisierung der Lebens- mittelbranche und das damit  einhergehende Aufbrechen traditioneller Produktionsmethoden und Versorgungsstrukturen, nicht zuletzt durch die Globalisierung, wurde als feindlich, widernatürlich empfunden. Die Bio-Branche hat dem neue Konzepte von Natürlichkeit und Kreislaufwirtschaft entgegengesetzt. Nun befindet sie sich auf Wachstumskurs. Was bedeutet das für die Öko-Lebensmittelwirtschaft? Und wie ist dieses Wachstumsdilemma zu lösen?

Die Bio-Bewegung und die von ihr etablierten praktischen Methoden beruhen auf Kreislaufwirtschaft, Vollwerternährung und anderen naturalistischen Ernährungsbewegungen. Es galt und gilt auch heute noch, den Menschen als Teil der Natur wahrzunehmen und klar zu stellen, dass es nur Entwicklungsperspektiven mit der  Natur und nicht gegen die Natur gibt. Die über viele Jahrzehnte geprägten Strebrichtungen der Bio-Branche für neue, beispielsweise kreislauforientierte Produktionssyste­me, gesunde Ernährungskonzepte oder alternative Vertriebssysteme sind  in den letz- ten 15 Jahren immer mehr unter Druck geraten.

Die Anderen sind Schuld – oder nicht?

Traditionelle Player der Lebensmittelwirtschaft haben sich in den letzten Jahren Themen angenommen, wie Rezepte ohne Zusatzstoffe zu entwickeln, oder sich  effektiv mit der Reduktion von Kontaminanten befasst. Ganze Branchen reden über Nachhaltigkeit. Andere Akteure haben sich mit alternativen Konzepten für andere Schwerpunkte beschäftigt, z.B. mit dem gerechten Handel.   

Die dynamische Veränderung der Lebensmittelbranche ist in der heutigen Handelsstruktur ablesbar. Die freien Facheinzelhändler werden in ihrer Funktion ersetzt durch den filialisierten Fachhandel, der konventionelle Handel bietet mehr und mehr Biosortimente an. Bio-Unternehmen werden von Konzernen geschluckt oder schlucken sich gegenseitig. Als eine Antwort darauf setzen Branchenakteure zunehmend auf ein ohne-Profil: ohne Rückstände, ohne Gentechnik, ohne Ausbeutung, ohne Zusatzstoffe, ohne Nano, ohne Massentierhaltung. Die Legitimation der Branche erschöpft sich darin, dass andere Akteure schlecht sind. Das ist eine substanzielle Schwäche, die am notwendigen Wachstumskurs scheitern muss. Denn: es wird zunehmend unklar, wer denn die anderen sind. Außerdem geht die Fähigkeit verloren, Entwicklungen aus der Idee heraus in einem positiven Sinne voranzubringen.

Aber wer ist die Branche? Da sind die Naturkostmarken in den Supermärkten. Da findet eine massive Filialisierung des Fachhandels statt, der heute schon ähnliche Besitzstrukturen wie der konventionelle Lebensmittelmarkt aufweist. Im­mer  mehr  konventionelle Lebensmittelhersteller produzie- ren  Bio-Produkte. Die Verrechtlichung des Begriffes „Bio“ hat den Weg dafür frei gemacht, dass Bio heute ein  Marktsegment  ist, das von allen Wirtschaftspartnern bespielt werden kann - nicht mehr und nicht weniger.

Die Bio-Branche als Bewegung  ,in  einem Stück‘ gibt es heute so nicht mehr. Das bedeutet nicht, dass es keine Akteure gibt, die weiter an den Strebrichtungen der Bewegung arbeiten. Ganz im Gegenteil: es sind sehr viel mehr geworden. Nur eben unübersichtlicher und heterogener in der Ausgestaltung. Die Bewegten sind nicht so ganz einfach zu erkennen – das Etikett Bio reicht nicht mehr. Viele Pioniere haben sich verändert, neue Akteure kommen mit  unterschiedlichsten Beweggründen dazu.

Zwei notwendige Strebrichtungen

Bei dieser Entwicklung gilt es, vor allem zwei Aufgaben zu bewältigen. Da ist erstens die Aufgabe, die Errungenschaften im Öko-Landbau und in der Herstellung möglichst schnell möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, um den gesicherten und notwendigen ökologischen Nutzen dieser Methoden breit wirksam zu machen. Unser Planet braucht unbedingt und schnell Entlastung, beispielsweise in Bezug auf das Artensterben oder den exzessiven Einsatz von Agrarchemikalien für seine ökologischen Systeme.

Das Konzept der ökologischen Lebensmittelwirtschaft leistet hier und heute schon Erhebliches. Leider sind diese Leistungen noch zu sehr in der Nische verankert, um breit wirksam werden zu können. Um das zu ändern, braucht es professionelles Agieren von leistungsfähigen Massenanbietern im marktwirtschaftlichen System und die nötigen politischen Weichenstellungen in der agrarischen Planwirtschaft.

Da ist zweitens die Aufgabe, die Systeme der Öko-Lebensmittelwirtschaft weiterzuentwickeln. Wir sind noch weit davon entfernt, dass  zum Beispiel die sozioökonomischen Fragen der Nachhaltigkeit oder das Thema gesunde Ernährung mit den bisherigen Bio-Konzepten ausreichend gegriffen haben. Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten gegenüber wenigen Großkonzernen, die Dominanz einiger Länder im internationalen Handel und die ungleiche Verteilung der materiellen Ressourcen schreien nach Lösungen. Die Katastrophen von Hunger und Überernährung bedürfen Antworten. Für diese Fragen hat die Bio-Branche nur ansatzweise oder noch keine Konzepte entwickelt. Und nicht zuletzt sind die Produktionsmethoden der Öko-Lebensmittelwirtschaft weiter entwicklungsbedürftig, zum Beispiel in Richtung Kreislaufwirtschaft oder positiver Umweltbilanz. Da bedarf es neuer Kreativität, neuer Ansätze, Offenheit für diese Ideen und den Mut, zu gestalten. Es gibt viel zu  bewegen für alte und neue Akteure, die für eine Erneuerung der Bio-Lebensmittelwirtschaft kämpfen.

"Wir sollten diese Entwicklungen nicht als Gegensatz begreifen, sondern als zwei notwendige Strebrichtungen für unsere Zukunft."
Damit können wir einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Welt leisten. Konflikte an dieser Frontlinie bringen nichts, sondern sind entwicklungshemmend. Hersteller von Lebensmitteln haben bei dieser Aufgabe eine Schlüsselrolle. Vermitteln diese doch Werte in der Warenkette zwischen Landwirten und Absatzhandel und sind gleichzeitig verantwortlich für die Wandlung von landwirtschaftlichen Rohwaren in vermarktungsfähige Lebensmittel.

Nicht zuletzt bin ich persönlich überzeugt, dass wir den Schwenk von einer konsumgetrieben Wachstumswirtschaft hin zu einer von Lebensqualität bestimmten Suffizienzwirtschaft schaffen müssen. Die Mechanismen der wachstumsorientierten Marktwirtschaft zerstören perspektivisch unsere Lebensgrundlage. Dieses Wirtschaftskonzept muss reformiert oder ersetzt werden. Es ist im Moment jedoch vollkommen unklar, von wem der Impuls zu diesem Wandel kommen kann. Möglicherweise kann die Revolution diesmal nur aus der Unternehmerschaft selbst kommen.

Dr. Alexander Beck
Geschäftsführender Vorstand
der Assoziation ökologischer
Lebensmittelhersteller

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