Editorial
Editorial Ausgabe 90/Januar 2017, 1. Quartal
Liebe Leserin, lieber Leser!
Kaufleute, insbesondere die für Lebensmittel, agieren in besonderer Nähe zum Verbraucher und tragen damit eine große Verantwortung, aus der heraus sich ihre Handlungsstrukturen bilden. Ging es bisher nur um den billigsten Preis, müssen Lebensmittelkaufleute heute eine weit differenzierte Esskultur ins Kalkül ziehen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Staatliches Handeln, gesellschaftliche Normen und kultureller Wandel beeinflussen die Trends und Kaufentscheidungen ebenso. Beim allgegenwärtigen Ruf nach gesunder Ernährung streiten sich die Geister über die richtigen Inhalte.
„Als am gesündesten gelten Lebensmittel mit den Labels regional und bio“, schreibt Diana Hertle in der aktuellen Health Trends-Studie des Zukunftsinstituts. Und „es wird spürbar, dass gesunde Ernährung nicht nur ein gesellschaftlicher Wert, sondern eine geforderte Norm ist. Dabei wird deutlich, dass Menschen künftig immer weniger bereit sind, einen Lebensmittelmarkt zu akzeptieren, bei dem die Gesundheit von Produkten nicht an erster Stelle steht.“
Ein Supermarkt führt bis zu 50.000 Lebensmittel, die der Vielfalt an Genuss und Geschmack gerecht werden sollen. Eine Hyper-Aufgabe, die heute noch von rein wirtschaftlichen Entscheidungen geprägt wird. Ein Bio-Laden bzw. Bio-Supermarkt hat es da einfacher. Hauptsache Bio und der Rest betrifft andere. Rund 95 Prozent der Verbraucher gehen aber bei diesen anderen einkaufen!
Hatte dasselbe Zukunftsinstitut, das heute gesunde Lebensmittel in ihren Studien ganz oben auf der Aufmerksamkeitsskala der Verbraucher ausmacht, Ende der 90er Jahre den Bio-Trend schon als überholt geglaubt, wurde mit der BSE-Krise und allen kommenden Lebensmittel-Skandalen eine Dauertrendwende erkennbar.
Die Bio-Pioniere, ihre Kinder und Enkel lassen sich von der gesellschaftlichen Aufgabe tragen, gesunde Lebensmittel in einer intakten Natur zu erzeugen. Neben ihrem unbestreitbaren Erfolg wird jedoch auch deutlich, dass der Zeitgeist sie in mehrfacher Hinsicht überrollt hat. So sind Free-From-Produkte, Veganes oder Vegetarisches, Regionales oder eine Ernährung ohne Gentechnik ebenso im Forderungskatalog angelangt wie Nachhaltigkeit oder fairer Handel und Sozialbewusstsein beim Lebensmittelkauf.
Da werden nicht wenige dazu verführt, Bio in einen Fachhandelsmarkt einzusperren, der sich nur noch im 100-Prozent-Bio-Angebot unterscheidet. Viele wichtige Zielsetzungen sind hinaus gesickert in die Allgemeinheit. Und anstatt dies als hervorragendes Ergebnis zu bewerten, drängen Partikularinteressen in den Vordergrund. Nein, Bio ist nicht nur Grüne Politik und gehört weder den Bioladen-Pionieren noch den Biogroßhändlern. Bio ist für ALLE. Und die erreichen wir am schnellsten über die flächendeckenden Regale aller Lebensmittelkaufleute.
Open the doors, öffnet die Wege für Bio! Lasst nicht weiter zu, dass heute auch der Landwirtschaftsminister Schmidt Bio einfach im Fachhandel veroutet und dort das Problem Öko-Landwirtschaft ganz bequem los wird.
„Schön“, sagen sich da einige der Big-Player am Markt und nehmen die Entwicklung der Bio-umstellung selbst in die Hand. Mit mäßigem Erfolg versteht sich, kann solch ein Engagement doch nicht mehr erreichen, als das eigene Image zu polieren. Gleiches machen Rewe und Edeka mit ihrem Nachhaltigkeits-Marketing.
Die Vögel pfeifen es schon lange von den Dächern: Mehr Öko-Bauern gibt es nur, wenn für sie die Bio-Zukunft durch ein flächendeckendes Bio-Angebot gesichert ist. Es wird dabei jeder gewinnen, der sich genügend profiliert.
Hier kann die Politik nicht verantwortlich gemacht und eingespannt werden. Da wird Weitsichtigkeit gebraucht. Bio 3.0 oder Bio 4.0 hin oder her, die Branche selbst muss die Umstellung auf ökologischen Landbau durch eigene Öffnung im Handel ankurbeln.
75.000 Bio-Produkte sind mit dem Bio-Siegel gelabelt. Wo zum Donner sind die denn? Die Kaufleute schaffen gerade einmal 1.500 und ein paar wenige noch etwas darüber in ihre Regale, viele nicht einmal das. Und darunter sind dann noch vielfach Dubletten bis Sixtilietten und mehr vom Gleichen. Flächendeckend ist in deutschen Regalen kein Bio-Vollsortiment verfügbar.
Schon gar nicht im steten Wettbewerb, also in mehreren Outlets zur Auswahl. Alles konzentriert sich auf die Zentren und zwischenzeitlich auch ein wenig hinein in deren Halskrausen. Dort freilich haben die Bio-Supermarktketten die freie Entfaltung der Bio-Läden gekappt, kommt Groß und macht Klein kaputt. War da nicht was?
Kurz vor Redaktionsschluss erreicht uns die Nachricht, dass die Arbeitsgemeinschaft Ökologisch engagierte Lebensmitteleinzelhändler und Drogisten (ÖLD) gegründet und von Felix Prinz zu Löwenstein begrüßt wurde. Das neue BÖLW-Mitglied repräsentiert annähernd zwei Drittel des deutschen Bio-Umsatzes.
Erich Margrander
Herausgeber