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Nachhaltigkeit

Die Akte Kuh: heilig oder Klimakiller?

bioPress im Gespräch mit Landwirtin und Weidehaltungsexpertin Christine Bajohr

Die Akte Kuh: heilig oder Klimakiller? © Quelle: Johanna Zach
2003 haben Christine Bajohr und Martin Wiedemann-Bajohr den Hof übernommen. Heute halten sie Zweinutzungsrinder nach Demeter-Kriterien, verwenden mobile Zäune und führen die Herde nach Prinzipien des Holistischen Weidemanagements über die Flächen.

Christine Bajohr betreibt mit ihrem Mann im Oberallgäu einen Demeter-Hof mit Weiderindern und hat vor drei Jahren das Projekt KuhproKlima ins Leben gerufen: Von 2020 bis 2023 haben sieben Bio-Grünlandbetriebe mit wissenschaftlicher Begleitung regenerative Methoden wie das sogenannte Holistische Weidemanagement in ihre Bewirtschaftung integriert und ihre Erfahrungen in einem Leitfaden zusammengefasst. Über die Hintergründe, Ergebnisse und zukünftigen Handlungsbedarf sprach Bajohr mit bioPress.

bioPress: Frau Bajohr, besonders unter Verfechtern der veganen Ernährung gilt die Kuh heute als ‚Klimakiller‘ schlechthin. Warum stimmt dieser Vorwurf nicht?

Christine Bajohr: Tatsächlich hatten die Kuh und andere Wiederkäuer eine entscheidende Funktion dabei, dass sich unser Ökosystem Erde entwickeln konnte. Gras ist noch besser in der Kohlendioxid-Umwandlung in Humus als Bäume. Anstatt im Stamm wird der Kohlenstoff dabei im Boden gespeichert, was eine andere Bodenstruktur zur Folge hat, sodass wiederum auch mehr Nährstoffe und Wasser gespeichert werden können. Lässt man es aber wachsen, wird es alt und die Photosynthese stoppt. Grasende Tiere sind daher wichtig, um den Kohlenstoffkreislauf zu unterhalten. Wiederkäuer düngen den Boden, halten die Landschaft offen und unterstützen die Entstehung und den Erhalt von Artenvielfalt. Nicht umsonst wird die Kuh in anderen Regionen der Welt als heilig verehrt – sie war für die Fruchtbarkeit der Äcker verantwortlich.

Es war unser größter Fehler, dass wir die Kuh aus der Landschaft herausgeholt haben – und dass wir durch industrielle Methoden mehr Ressourcen verbraucht haben, als nachwachsen können. Das Ergebnis sind vernichtete Lebensräume und mehr CO2 in der Atmosphäre als im Boden. Wasser- und Kohlenstoffkreisläufe sind massiv durcheinander geraten. Die Trockenphasen nehmen zu und der Grundwasserspiegel sinkt.

Es ist jetzt Aufgabe der Landwirtschaft, die Kreisläufe wieder zu stabilisieren. Und dafür brauchen wir auch Tiere. In den Gründlandregionen muss die Kuh wieder nach draußen! Jeder kann es schaffen, eine andere Richtung einzuschlagen. Sogar Wüstenregionen lassen sich begrünen, wie die Initiative Sekem in Ägypten gezeigt hat, – und zwar am schnellsten mit der Hilfe von Kühen.

Die CO2-Bilanz-Rechner sind nicht fair der Kuh gegenüber. Ihre Leistungen für Wasserkreislauf, Bodengesundheit und Biodiversität kommen dort nicht vor. Und auf der anderen Seite bedeutet eine gute Klimabilanz nicht, dass ich ein Ökosystem wieder in Ordnung gebracht habe. Da müssen wir den Bogen größer spannen und ganzheitlicher denken.

bioPress: Sie sind mittlerweile Expertin auf dem Gebiet des Holistischen Weidemanagements nach Allan Savory. Was verbirgt sich dahinter?

Bajohr: Hinter dem Konzept steckt ein ganzes Framework für ein komplexes Managementsystem, inklusive der Finanzplanung. Vielleicht wäre unsere Bundesregierung gut beraten, es sich einmal anzuschauen…
Ein Teil des Rahmenwerks ist die Weideplanung, mit Hilfe derer Landwirte ihre Beweidung so optimieren können, dass damit Ökosystemprozesse verbessert werden. Es geht dabei darum, ein Gleichgewicht herzustellen und die natürlichen Ressourcen zu fördern. Damit eine Herde Pflanzenbestand und Boden unterstützt, gilt es zum Beispiel so zu planen, dass sie genau zum richtigen Zeitpunkt auf der Fläche ankommt.

bioPress: Ist das Weidemanagement für jede Region und jeden Viehhalter geeignet?

Bajohr: Das Konzept muss immer an die Saison, den Standort und die jeweiligen Ressourcen angepasst werden. Mit einer 12.000-Liter-Kuh lässt es sich nicht umsetzen: Die kommt mit dem Wetter nicht zurecht und ist für eine Vollweidehaltung im Freien nicht geeignet. Hat ein Landwirt eine Herde mit 100 Kühen, muss die eventuell schon bald weiterziehen – also die Weideparzelle gewechselt werden.

Wir selbst wenden das Holistische Weidemanagement jetzt seit sieben Jahren an. Dadurch ist die Fläche produktiver geworden, das Bodenleben hat sich erhöht und die Wasserspeicherkapazität hat sich verbessert. Tatsächlich gedeihen die Pflanzen jetzt so gut, dass wir unseren Tierbestand verdoppelt haben – andernfalls hätten wir mehr mähen müssen, als wir fürs Winterfutter benötigen.

Unsere Tiere sind Zweinutzungskühe, das heißt, wir halten sie sowohl für Milch als auch für Fleisch. Im Sommer haben wir inzwischen über 30 Tiere. Ich denke, im Allgäu sind 60 Milchkühe eigentlich die maximale Größe für dieses Weidesystem – sonst wird es allein von den Wegen her schwierig, dass sie jeden Tag zurück zum Melken gebracht werden. In Norddeutschland auf großen ebenen Flächen gibt es aber sicher auch Lösungen für mehr Kühe. Unsere Herde ist bis Ende November draußen – in anderen Gegenden Deutschlands wäre auch eine ganzjährige Weidehaltung möglich.

bioPress: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass Projekt KuhproKlima ins Leben zu rufen?

Bajohr: Unser KügelSüdhangHof im Oberallgäu befindet sich an einem Standort, der sehr unter den Extremwetterbedingungen leidet: auf einer Endmoräne mit 50 bis 60 Prozent Hangneigung. Durch Starkregenereignisse gab und gibt es sowohl unter- als auch oberirdische Erosion. Deshalb haben wir gemerkt, dass wir etwas anders machen müssen. Zufällig bin ich zu Hause auf das Buch von Allan Savory zum Weidemanagement gestoßen, in dem beschrieben wird, wie wir auf die Prozesse Einfluss nehmen können.

2018 hatten wir im Allgäu eine sehr trockene Saison. Im selben Jahr haben wir den Bayerischen Klimapreis gewonnen – für Kreativität und Innovation bei der Grünlandnutzung in erosionsgefährdeten Steillagen – und so eine gewisse Bekanntheit erlangt. Es gab daraufhin viele Anfragen von interessierten Bauern aus der Region und dadurch bin ich auf die Idee gekommen, mit ihnen gemeinsam auszuprobieren, wie man Ökosystemprozesse mit Hilfe der Kuh am besten fördert.

Im Projekt haben wir uns dann genau angeschaut, wie die Kuh da draußen interagiert und wie wir unsere Ressourcen einsetzen können, um resilienter zu werden. Wir haben uns verschiedene Strategien ausgedacht und sie getestet. Ein Problem ist, dass die Ergebnisse nur schwer vergleichbar sind und es keine Patentrezepte gibt. Eins und eins kann mal zwei sein – und auch mal minus zwei. Aber wir können unser Wissen darüber erweitern, welche Möglichkeiten es gibt, mehr Klimaresilienz zu erreichen.

bioPress: Ihr Projekt wurde von der Europäischen Innovationspartnerschaft für Landwirtschaft (EIP Agri) gefördert. War es schwierig, diese Unterstützung zu bekommen?

Bajohr: Ja, das war erst nicht einfach. Das Holistische Weidemanagement ist sehr komplex und unsere Projektidee war ein untypisches Konzept. Uns ging es ja nicht um eine neue Produktentwicklung oder Ähnliches, sondern darum, Beweidungsmethoden besser verstehen zu lernen – das war zunächst schwer zu verkaufen. Ich denke aber, dass wir am Ende mit einem geringen Budget sehr viel geleistet und einen guten Rundumschlang hinbekommen haben.

bioPress: Gab es Ergebnisse des Projekts, die Sie überrascht haben?

Bajohr: Allgemein waren wir überrascht, dass wir – mit wissenschaftlicher Begleitung – so viel herausgefunden haben. Wir hatten auch nicht damit gerechnet, dass das Projekt auf so viel Interesse und Resonanz stoßen würde. Sogar das Umweltministerium ist auf uns aufmerksam geworden und es gab viele Presseanfragen. Außerdem haben wir uns darüber gefreut, dass drei Bachelor- und drei Masterarbeiten darüber geschrieben wurden. Die Studenten kamen von selbst auf uns zu und werden nun vielleicht auch bei kommenden Projekten wieder mit von der Partie sein.

Was die teilnehmenden Landwirte angeht, so haben manche wirklich total viel geändert und es ist krass, diese Entwicklung in nur kurzer Zeit zu sehen. Ich glaube, es ist auch eine Besonderheit des Projekts, dass die Bauern in unserem Leitfaden selbst ihre Geschichte erzählen. Sie mussten zwar viel dokumentieren und haben teils über die Zusatzarbeit geflucht, aber ich denke, am Ende ist es das wert gewesen.

bioPress: Wie sieht es mit der wirtschaftlichen Ebene aus? Wie groß ist der Aufwand? Rechnet es sich für Bauern, auf Holistisches Weidemanagement umzustellen?

Bajohr: Man muss natürlich mehr Zeit investieren. Im ersten Jahr war es für die Neueinsteiger noch schwierig, im zweiten hatten sie dann schon Erfahrungswerte. Die Idee ist ja nicht, zusätzliche Praktiken einzuführen, sondern frühere Praktiken durch ein anderes Management zu ersetzen. Wenn man das gesamte Framework gesamtbetrieblich integriert, wird es auch wirtschaftlich. Man braucht weniger externen Input. Einer der Landwirte hat mit den neuen Methoden zwar weniger produziert, aber trotzdem einen größeren Gewinn erwirtschaftet – es gilt nur, an den richtigen Stellschrauben zu drehen.

bioPress: Aktuell planen Sie bereits ein neues Projekt – ein Mentorenprogramm zum Aufbau einer selbstlernenden Peer-to-Peer-Netzwerkstruktur für regenerative Bewirtschaftungsmethoden. Was kann man sich darunter vorstellen?

Bajohr: Im Zuge von KuhproKlima haben sich viele Punkte ergeben, wo weiteres Verbesserungspotenzial besteht. So gibt es immer weniger Metzger und Verarbeiter in der Region, auf die wir zur Vermarktung unserer Produkte angewiesen sind. Vieles lernen Landwirte außerdem nicht in Studium und Ausbildung. Besonders im deutschsprachigen Raum ist es noch schwierig, an Wissen über regenerative Methoden wie das Holistische Weidemanagement zu kommen. Es fehlt an Erfahrungswerten in unseren Breitengraden.

Auch die Spaltung in Bio und konventionell können wir uns nicht mehr leisten. Ich kenne Bergbauern, die nicht zertifiziert sind, aber eigentlich mehr als Bio machen. Das ganze Kontrollsystem und die Bürokratie dahinter kann eine Weiterentwicklung auch ausbremsen. Dabei muss sich der Bio-Sektor ebenfalls verbessern und differenzierter an Probleme herangehen.

Wir brauchen also mehr Vernetzung in den Regionen, ein besseres Kommunikationssystem und mehr Austausch – untereinander, aber auch mit Händlern und Verarbeitern. Globaler Handel ist nicht nachhaltig und trägt zur Destabilisierung der regionalen Versorgung bei. Anstatt die Landwirtschaft vor Ort noch weiter zu eliminieren, gilt es, wieder mehr regional zu denken und die Logistik dafür zu verbessern.

Deshalb wollen wir ein Netzwerk für regenerative Methoden aufbauen und eine Stelle etablieren, die sich genau darum kümmert. Bis Ende Februar soll das Konzept dafür stehen. Aktuell sind wir noch auf der Suche nach weiteren Projektpartnern für die Umsetzung und Finanzierung. Allgemein sind wir an gemeinsamen Projekten mit dem Handel und anderen Partnern interessiert.

bioPress: Welche Unterstützung wünschen Sie sich konkret von der Bundesregierung?

Bajohr: Die Politik spart an den falschen Stellen und gibt zu viel Geld für Unwichtiges aus, das nicht mehr zeitgemäß ist. Anstatt mehr Verbote und Regulierung wünsche ich mir von der Regierung andere Rahmenbedingungen. Der Flächenverbrauch muss aufhören und es müssen regionale und lokale Lösungen mit individuellen Konzepten gefördert werden. Veraltete bürokratische Strukturen machen es schwer, an Projektmittel zu kommen, und am Ende müssen die Initiatoren auch bei gemeinnützigen Projekten selbst in Vorleistung gehen, weil nicht alles finanziert wird.

Anstelle der üblichen ‚Wertschöpfungskette‘, die mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beginnt und mit dem Generieren dubioser Finanzprodukte endet, sollten wir ein neues Modell entwickeln: in dem die soziale und ökologische Ebene und die Teilhabe aller im Vordergrund steht. Wenn alle beteiligt sind und für ihre Arbeit auch wertgeschätzt werden, wird uns das helfen, durch schwierige Zeiten zu kommen.

bioPress: Bei den Öko-Marketingtagen haben Sie über Milch aus dem Labor gesprochen. Was denken Sie über Entwicklungen in diese Richtung?

Bajohr: Ich bin dort auf die Studie des kalifornischen Thinktanks RethinkX eingegangen. Derzufolge kann die Kuh bis zum Jahr 2030 eigentlich weg. Mittels Präzisionsfermentation ließen sich milchähnliche Produkte erzeugen, die angeblich günstiger und umweltfreundlicher sind als Kuhmilch. Die Zukunft wäre dann von maßgeschneidertem Design-Food geprägt.

Vielleicht macht künstliche Ernährung angesichts der wachsenden Bevölkerung tatsächlich Sinn. Verbraucher sind künstliche Lebensmittel auch schon gewohnt: Manches, was heute im Supermarkt steht, hat meines Erachtens mit richtiger Milch bereits nicht mehr viel zu tun.

Was die Industrie aber nicht auf dem Schirm hat und was in der Diskussion fehlt, ist der Wert der Kuh. Ihre wichtigste Aufgabe ist dabei gar nicht, uns mit Milch und Fleisch zu versorgen, sondern ihre Rolle im Kohlenstoffkreislauf zu spielen. Durch falsche Landnutzung haben wir mehr als die Hälfte der Biomasse verloren. Die Kuh kann uns dabei helfen, sie wieder aufzubauen.

Interview:
Lena Renner

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