Ukraine
Westliche Werte und der EU-Osten
Vom bioPress Korrespondenten Peter Jossi, Basel, Schweiz

Mitte April 2023 eskalierten die agrarpolitischen Spannungen an der EU-Ostgrenze zur Ukraine zu mehrtägigen Grenzschließungen. Anfang Mai jedoch verkündete der EU Trade Commmisioner Valdis Dombrovskis: „We have a deal!“ Was war hier los?
Der von der EU-Kommission vermittelte Deal im Grenzkonflikt beendet die aktuellen agrar- und grenzpolitischen Spannungen an der EU-Ostgrenze zur Ukraine. Bereits zuvor ermöglichten rasche bilaterale Verhandlungen die schrittweise Lockerung der zeitweise vollständigen Grenzschließungen für ukrainische Getreide-Exporte und weitere Agrargüter. Die seitens EU mit Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei getroffene Vereinbarung stellt in erster Linie sicher, dass der Gütertransit für Getreide und weitere ukrainische Agrarerzeugnisse wieder ungehindert funktioniert.
Solidarität und Deal-Making
Seit rund einem Jahr ermöglicht die EU angesichts des ausgeweiteten russischen Angriffskriegs den erleichterten Import von ukrainischen Agrargütern. Dies vereinfachte den Ausbau von alternativen Logistik-Routen via Ost- und Nordsee-Häfen. Angesichts der zeitweise vollständig blockierten und bis heute eingeschränkten Schwarzmeer-Route erwiesen sich diese Maßnahmen als überlebenswichtig für die ukrainische Agrarwirtschaft.
© GOL LT
Diese Tatsache ist selbstverständlich den politisch Verantwortlichen namentlich in Polen und der Slowakei bewusst, für die sich die vergangenen Wochen als Eiertanz gestaltete. Entsprechend groß war der Wille zum Ausgleich zwischen den massiven Forderungen der einheimischen Landwirtwirtschafts-Lobby und der ansonsten nach wie vor gesellschaftlich stark verankerten Solidarität mit dem ukrainischen Abwehrkampf. Existenziell und symbolisch: Zeitgleich mit den Grenzschließungen verkündeten Polen und die Slowakei die Lieferung von Kampfjets zur Unterstützung der ukrainischen Verteidigung.
Für den raschen Abschluss der Vereinbarung förderlich: Die Erhöhung der agrarpolitischen Ausgleichszahlungen in Höhe von 100 Mio. Euro an die fünf osteuropäischen Mitgliedstaaten, wie der aus Lettland stammende Handelskommissar Dombrovskis als Teil des Deals verkündete. Finanziert aus der EU-Agrarreserve soll gemäß vorliegenden Informationen ein Großteil von etwa 39 Mio. Euro auf Polen entfallen, rund 30 Mio. Euro dürften nach Rumänien fließen, während Ungarn 16 Mio. Euro, Bulgarien 10 Mio. Euro und die Slowakei 5 Mio. Euro aus der Agrarreserve erhalten sollen.
Solidaritäts-Korridore stärken!
Der deutsche Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir begrüßt die nun getroffene Vereinbarung, fordert jedoch vertieftere Regelwerke und Betrachtungsweise: „Es ist gut, dass es nun eine Lösung gibt, damit die Ukraine ihr Getreide weiter exportieren kann. Es ist wichtig, dass das ukrainische Getreide dorthin gelangt, wo es gebraucht wird: in die Länder des globalen Südens.“
Die Ukraine sei dringend auf Einnahmen aus dem Agrarsektor für die Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg angewiesen, betont Özdemir und ergänzt: „Die EU-Solidaritätskorridore müssen hierfür verstärkt werden. Ein abgestimmtes und regelbasiertes europäisches Vorgehen ist die Grundlage für unsere Stärke. Ich betone, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich dazu wiederholt nachdrücklich bekannt haben. Die europäische Solidarität untereinander und mit der Ukraine darf nicht kurzfristig nationalen Einzelinteressen geopfert werden, denn das schwächt uns alle. Putins Krieg findet auf vielen Schauplätzen statt, er versucht die Ukraine wirtschaftlich zu schwächen und den Druck auf unsere Staatengemeinschaft zu erhöhen.“
Problem gemanagt – Herausforderungen bleiben
Die vorläufige Beruhigung der Situation ermöglich einen genaueren Blick auf die Hintergründe und auf die mittel- und langfristigen Herausforderungen. Diese sind mit der aktuellen Vereinbarung bestenfalls ansatzweise gemeistert. Viel war in den Medienschlagzeilen die Rede von billigem agroindustriellen ukrainischen Getreide, das die Märkte der Nachbarländer überschwemme und die einheimische Landwirtschaft unter Druck setze.
In der Realität sind die osteuropäischen Nachbarländer keineswegs die Haupt-Zielmärkte der ukrainischen Exporte. Die Grenzschließungen betrafen alle Sektoren der ukrainischen Agrarbranche unabhängig von der Betriebsgröße und den erfüllten Standards. Notabene viele der engagieren Großbetriebe der ukrainischen Biobranche sind seit Jahren nach Bio Suisse-Richtlinien anerkannt und engagieren sich in Pionierbereichen wie die klimaneutrale Landwirtschaft. Eine weitere Erfolgsgeschichte war von den Grenzschließungen direkt betroffen: Das in ganz Südosteuropa verankerte Anbauprogramm Donau Soja, das insbesondere für die Schweiz einen Großteil der GVO-freien Sojaversorgung sicherstellt. Zu einem substantiellen Anteil Erfolg der Donau-Soja-Anbau in der Ukraine. Die europa- und handelspolitisch gut vernetzte Donau Soja-Organisation setzte sich denn auch entsprechend vehement für eine sofortige Aufhebung der Importeinschränkungen ein.
EU-Agrarpolitik – Auftritt der ukrainischen Ernährungswirtschaft
In der EU-Politik hat sich in der heißen Phase der Grenzschließungen Historisches ereignet. Erstmals, zumindest in dieser Eindeutigkeit, hat sich eine breite Allianz der ukrainischen Agro-Food-Branche mit einem gemeinsamen öffentlichen Statement an die EU Kommission gerichtet. Die Kernbotschaft: „So nicht!“. Die Verantwortlichen der Branche verlangen faire und transparente handelsrechtliche Rahmenbedingungen beim Handel mit der EU. Tatsächlich fordern sie damit nur den Marktzugang, den die EU seit Beginn des russischen Angriffskriegs bereits gewährt hatte, aber offensichtlich an ihren eigenen Außengrenzen nicht durchzusetzen vermochte.
“We don`t need regrets, we need respect and partnership. We do not expect your support just because of war. We ask for your consideration, because we are creators and innovaters and producers and exporters despite the war (Wir brauchen kein Mitleid, wir brauchen Respekt und Partnerschaft. Wir erwarten Ihre Unterstützung nicht nur wegen des Krieges. Wir bitten um Ihre Rücksichtnahme, weil wir trotz des Krieges Schöpfer und Innovatoren, Produzenten und Exporteure sind)“, betont Anastasiia Bilych als Marketing- und Nachhaltigkeitsverantwortliche der Agroindustrial Group Arnika Organic.
© Arnica Organic
Mit insgesamt rund 18.000 Hektar biozertifizierter Bewirtschaftung zählt Arnika Organic zu den größten Biobetrieben Europas. Das Beispiel Arnika Organic zeigt, wie kurz der Pauschalvorwurf vom billigen Agrobusiness zielt. Das Unternehmen erfüllt die Bio Suisse-Anforderungen, ja geht noch weit darüber hinaus, namentlich im Bereich der klimaneutralen Landwirtschaft.
Anastasiia Bilych betont, die ukrainische Agrarbranche umfasse große und kleinere Betriebe und alle seien von den Grenzschließungen gleichermaßen betroffen gewesen. Kleine Betriebe und die besonders nachhaltige Biobranche mit ihrer starken Ausrichtung auf den euopäischen Markt seien von Importeinschränkungen sogar besonders hart getroffen worden.
Unter den über 100 Ländern, die ökologische Agrarerzeugnisse in die EU exportieren, liegt die Ukraine mit einem Gesamtexport von 215 bis 230.000 Tonnen an der Spitze. Anastasiia ergänzt mit Blick auf die aktuelle Situation: „Das sind keine bloßen Exportstatistiken, sondern die Mengen, die weiterverarbeitet, geliefert, verpackt und in die Regale der europäischen Supermärkte gestellt werden und entsprechend zertifiziert sind. Obwohl unter Kriegsbedingungen produziert, sind die in Preis und Qualität wettbewerbsfähig - ohne Subventionen und staatliche Unterstützung.“ Mit einem agrarpolitischen Gesamtblick gibt Anastasiia Bilych zu bedenken: “Wenn sich die europäischen Landwirte durch die ukrainischen Exporte so verunsichert fühlen, sollte vielleicht das Modell des europäischen Agrarsektors und seine Effizienz überdacht werden?“
Bundesminister Cem Özdemir unterstützt die Forderung nach einer kritischen Gesamtbetrachtung und Optimierung. Im Sinne einer Manöverkritik analysiert er: „Die eigenwilligen Grenzschließungen einerseits, aber auch das wenig transparente Vorgehen der EU-Kommission andererseits haben Kratzer hinterlassen. Ich erwarte, dass die Kommission künftig früher und beherzter eingreift und andere Mitgliedsstaaten bei Problemstellungen enger einbindet. Es hilft niemandem, wenn wir Probleme nur verlagern oder eine Krise auf Kosten einer anderen lösen. Vergessen wir nicht, dass wir neben den schrecklichen Folgen des Krieges auch mit denen der sich verschärfenden Klimakrise zu kämpfen haben. Extreme Dürre bedroht etwa in Spanien, aber auch in Frankreich oder Italien Ernten und die Existenz von Landwirtinnen und Landwirten. Wir müssen die unterschiedlichen Krisen zusammen lösen.“
Ost-West-Logistik braucht faire und verbindliche Regeln
Logistikalternativen zur traditionellen Schwarzmeer-Logistik kommt eine große und wachsende Bedeutung zu. Hier kann Anna Nikova, Direktorin des Unternehmens UAB Global Ocean Link Lithuania (GOL LT ) Unterstützung bieten: „GOL LT wurde 2017 in Vilnius gegründet, 2022 gefolgt von GOL Poland in Gdansk (Danzig). Unsere Wurzeln liegen in der Ukraine, wo unsere Muttergesellschaft 2009 in Odesa gegründet wurde.“ Bereits anfangs 2020 haben Global Ocean Link Ukraine und Lithuania erfolgreich einen Containerzugdienst zum CTT-Terminal in Rotterdam, Niederlande, getestet.
Zu Beginn des russischen Angriffskriegs konnte das Unternehmen daher rasch und flexibel Alternativen zur Schwarzmeer-Logistik anbieten. Anna Nikova erinnert sich: „Aufgrund unserer Erfahrungen konnten wir nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 kurzfristig unsere Dienstleistungen im Intermodalen Gütertransport auf der Schiene als Alternative und funktionierende Lösung umsetzen. Zeitweise war dies die einzige real funktionierende Logistiklösung.“
Die zeitweisen Grenzschließungen trafen die GOL-Gruppe direkt und bedrohen die eben erst auf- und ausgebauten Dienstleistungen. Anna Nikova hat klare Erwartungen über den aktuell vereinbarten Deal hinaus: „Wir hoffen und verlangen eine Normalisierung, den konsequenten Rückzug aller politisch motivierten Restriktionen und eine Rückkehr zu verlässlichen Regelwerken!“
Kommentar von Peter Jossi
Ukraine und Europa: EU-Versprechen einlösen
Die ukrainische Agrar- und Logistikbranche hat trotz Kriegserschwernissen mit viel innovativer Eigenleistung neue europäische Logistikwege als Alternative zur Schwarzmeer-Route erarbeitet. Für die vielfach betonten westlichen Werte im Rahmen der demokratisch-rechtstaatlich verlässlichen europäischen Gemeinschaft steht mit Blick auf die Logistik-Praxis damit ein Härtetest bevor. Dem gegenüber der Ukraine gegebenen Versprechen der europäischen Integration gilt es sehr zeitnah, verlässliche und faire Rahmenbedingungen zu definieren. Praxisnahe und langfristig wirksame Umsetzungs-Lösungen (Stichwort: Rückverfolgbarkeit) sind vorhanden. Auf dieser Grundlage lässt sich langfristig das Vertrauen und den Respekt entlang der Lieferkette stärken und die innovativen Ost-West-Logistikpartnerschaften zum europäischen Zukunftsmodell etablieren.