Ernährungsrevolution
Ernährungssouveränität für Städte und Gemeinden
Ernährungsräte wollen Probleme von Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung vor Ort lösen
Massentierhaltung, Monokulturen und Agrarfabriken mit hohem Düngemittel- und Pestizideinsatz – die industrialisierte Landwirtschaft wirft Probleme auf, die von Politik und Verwaltung noch nicht umfassend genug angegangen werden. Unter dem Stichwort Ernährungssouveränität bilden sich deshalb in Städten und Kommunen sogenannte Ernährungsräte, welche sich um eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Nahrungsmittelversorgung vor Ort bemühen und etwa den Anteil an regionalen Bioprodukten in öffentlichen Küchen steigern wollen.
Es handelt sich dabei um zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse, die demokratische und zukunftsfähige Ernährungssysteme auf lokaler Ebene etablieren wollen. Dabei können Menschen verschiedenster Hintergründe aufeinandertreffen: ob Aktivisten, Wissenschaftler, Lokalpolitiker oder (Land-) Wirtschaftler. Auch die Organisationsformen können ganz unterschiedliche Gestalt annehmen: von einer losen Initiative zum Verein, städtischen Beirat oder der klassischen NGO.
Impulsgeber für gemeinsame Ernährungspolitik
Ein Ernährungsrat ist ein Think Tank des lokalen Ernährungssystems. Er bündelt die Interessen der lokalen Akteure der Lebensmittelversorgung von Landwirt bis Verbraucher, erarbeitet Ernährungsstrategien für die Stadt und stößt als Impulsgeber neue Entwicklungen an. Außerdem fördert er die urbane Landwirtschaft, Gemeinschaftsküchen und regionale Ernährungssysteme und bekämpft soziale Benachteiligung im Ernährungsbereich.
Mit seinem Buch ‚Speiseräume – Die Ernährungswende beginnt in der Stadt‘ hat der Autor Philipp Stierand das Modell der Ernährungsräte erstmals in die Debatte in Deutschland eingebracht. Die Idee dahinter besteht für ihn darin, dass alle Akteure, die das Lebensmittelsystem in der Stadt aufrechterhalten, an einem Tisch zusammenkommen, um eine gemeinsame Ernährungspolitik auszuhandeln. Stierand wünscht sich eine ganzheitliche Betrachtung der Lebensmittelversorgung, die bis zur Landwirtschaft geht und nicht nur bis zum Supermarktregal. Schlussendlich solle die Landwirtschaft grundsätzlich in die Stadtplanung mit einfließen.
Von den USA nach Köln und Berlin
Bislang waren Ernährungsräte vor allem im englischsprachigen Raum verbreitet. Schon 1982 soll sich der erste Ernährungsrat in Knoxville (USA) gegründet haben, um eine Antwort auf die Ernährungsprobleme der Stadt – ernährungsbedingte Krankheiten und für sozial Schwache zu teure Essenspreise – zu geben. Seither sind Ernährungsräte in den USA, Kanada und Australien weiter auf dem Vormarsch.
Im Juli 2014 gründete sich in Köln der Verein ‚Taste of Heimat‘ und schloss einen Arbeitsvertrag mit der Stadt Köln zum Aufbau eines Ernährungsrats ab. Damit ist erstmals in Deutschland in Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Stadtverwa- ltung ein Strategiepapier für die kommunale Ernährungswende entstanden. Als Ziel wurde festgehalten, dass Kantinen regionale und ökologisch produzierte Lebensmittel standardmäßig in ihr Angebot aufnehmen, sodass sie ähnlich wie vegetarische Gerichte für die Konsumenten wählbar sind. Aktuell umfasst der Rat etwa 30 Mitglieder, die sich je zu einem Drittel aus öffentlichen Instanzen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammensetzen.
Ebenfalls 2014 bildete sich in Berlin die AG Stadt und Ernährung, die seit Mai 2015 regelmäßige Netzwerk- und Arbeitstreffen abhält und sich mittlerweile als anerkannte Bürgerinitiative etabliert hat. Eine wichtige Forderung des Berliner Ernährungsrats ist es, den Anteil an regionalen Bioprodukten in öffentlichen Küchen zu steigern. Damit in der Berliner Gemeinschaftsverpflegung langfristig mehr bioregionale Produkte auf den Tisch kommen, bringt der Berliner Ernährungsrat Kantinen mit regionalen Bauernhöfen zusammen. Im Projekt ‚Regiowoche‘ 2018 lieferten etwa elf Brandenburger Bio-Betriebe ihre Lebensmittel direkt an alle teilnehmenden Schulen.
Seit 2019 kann ganz Deutschland einen regelrechten Gründungsboom an Ernährungsräten verzeichnen. Mittlerweile gibt es hier knapp 50 Ernährungsräte und Gründungsinitiativen, die im Schnitt aus 12 bis 14 Personen bestehen. Philipp Stierand sieht die Bewegung für eine kommunale Ernährungspolitik erst am Anfang.
Lena Renner