Editorial
Editorial Ausgabe 65/November 2010
Liebe Leserin, lieber Leser!
Die Biobranche strengt sich an. Bio allein reicht nicht, schmecken muss es, fair muss es sein und auch sozial, regional kommt dazu und Nachhaltigkeit sowieso. Nur zu selten kommuniziert werden die einzigartig positiven Eigenschaften. Soll das Herz angesprochen werden, die Gefühle und auch noch der Verstand?
Die Verbraucher haben sich entschieden. Sie wollen alles und das sofort! Möglichst noch bezahlbar. Lebensmittel aus ökologischem Landbau stehen ganz oben in der Verbrauchergunst. Da kommt Neid auf. Einzelne Aspekte werden herausgepickt und Allerweltsprodukten angehängt.
So ging das vom (natürlichen) Geschmack über die Regionalität zum FairTrade-Produkt, danach ist die Nachhaltigkeit dran. Bio ist fair gegenüber der Natur und den zukünftigen Generationen. Fünf Prozent der FairTrade-Produkte waren Mitte der Neunziger Bio, heute sind es rund 95 Prozent! Das hat sich in die richtige Richtung bewegt.
Was ist jedoch mit den anderen Aspekten? Bio ist regional, hat sich da auch was gedreht? Man könnte es meinen, denn heute ist der Bio-Anteil an der Erzeugung in Deutschland rund sechs mal höher als vor 15 Jahren. In der Wirklichkeit ist regional mitnichten auch gleich Bio! Das Image ist - man könnte sagen - gestohlen und gerne werden Attribute aus dem ökologischen Landbau an die landwirtschaftlichen Erzeugnisse von nebenan geheftet, obwohl Chemiebelastetes gerade beim Bauern um die Ecke wächst! Wo denn sonst?
Sicher, die Biobranche treibt die Entwicklung auf dem Lebensmittelmarkt an. Sie hat die besseren Argumente, also wird sie nachgemacht. Gut ist auch, dass Biolebensmittel die Einkaufsstätten erobern. Auch wenn sie flächendeckend missbraucht werden können für die Nachhaltigkeits-Argumente des Handels und der Industrie. Wer sich heute den „Biomantel“ umhängt, der muss morgen Farbe bekennen. So wurden aus zwei bis dreihundert Bioartikel im LEH heute Tausend und mehr.
Dem Anspruch gerecht wird der Handel jedoch nur, wenn die Nachhaltigkeit bei Lebensmitteln ohne Unterlass eingefordert wird! Die Ökolandwirte und Naturkosthersteller haben es in der Hand, ob ihre Produkte in die Regale kommen und alle Verbraucher erreichen oder ob der Fachhandel allein die Entwicklung hin zu 20 Prozent Bioanteil schultern soll. Wie kämen wir mit den vergleichsweise wenigen Läden dann weiter auf dem Weg zur vollständigen Rückgewinnung von natürlicher Lebensmittelproduktion?
100 Prozent Bio! Ja, das scheint ein unerreichbares Ziel. Vor fünf Jahren noch durfte es nicht einmal ausgesprochen werden, wollte man ernst genommen werden. Heute ist das anders. Die Vorstellung, dass der Handel die Ökologisierung mitmachen würde, müssen wir gerade neu dazu lernen. Faire Produkte beim Discounter ist längst ein alter Hut, auch wenn fünf faire Produkte noch nicht die Welt bewegen.
Das Nachhaltigkeitspotenzial in der Lebensmittelindustrie und im Handel ist enorm. Eine wirksame Ökologisierung funktioniert nicht ohne sie! Ausgren-zen schlägt nach hinten aus. Alle müssen mitgenommen werden, wie auch immer. Die Branche muss dabei aufpassen, dass sie das Heft des Handelns in der Hand behält. Eine ökologische Scheinwelt - und diesen Versuch erleben wir ständig - darf es nicht geben.
Das Ringen um die Gentechnik zeigt, dass die Zeit mit uns ist. Neue Communities brechen alte Mächte auf. Eine Million Unterzeichner hat die Petition gegen Gentechnik im Netz gefunden und das EU-Parlament muss jetzt neu handeln. Ilse Aigner will „Lebensmittelcheck.de“ ins Leben rufen und Etikettenschwindel bekämpfen.
Selbst die schlimmste Krise hat den Aufwärtstrend von Biolebensmitteln nicht aufhalten können. Der so nicht erwartete Aufschwung belebt jetzt erstmals seit 20 Jahren die Binnennachfrage. Das sind allerbeste Voraussetzungen für einen weiteren kräftigen Schwung in der Biovermarktung.
Erich Margrander
Herausgeber