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Editorial

Editorial Ausgabe 120/Juli 2024, 3. Quartal

Liebe Leserinnen, liebe Leser.

Wenn der Mehrwert fehlt, muss ein Produkt auch nicht viel kosten. Das ist die Essenz unseres Interviews mit Affineur und Käse-Weltmeister Walo von Mühlen. Und klar, die deutsche Esskultur ist allein vom Preis bestimmt. Wer in der Politik dagegen halten will, bekommt es mit Menschen zu tun, die ihr Recht auf schlechte Ernährung verteidigen. Das spiegelt auch unsere aktuelle Politiklandschaft wider.

Die letzten 70 Jahre Lebensmittelwirtschaft sind von billig geprägt. Selbst in Frankreich drohte die Saat von wertlosem Essen aus den Händen weniger Entscheider auch die Einstellung zu ihrem geliebten Käse auf jedem Esstisch zu verdrängen.

Mittlerweile wird die Bewusstseins-Strömung von den Zusammenhängen Boden – Essen – Gesundheit immer stärker. Schon wieder diese linke Politik: Ernährungsumgebung beeinflusst die freie Entscheidung bei der Auswahl der Lebensmittel! So schreien liberale Geister unisono mit Ewiggestrigen. Dabei ist es doch unbestreitbar, dass den Kantinengängern keine andere Wahl bleibt als das Kantinenessen! In diesem Fall ist bedenkenswert, dass es nicht selten zweierlei Kantinen gibt: unten die Dampfküche, oben à la carte. Klar, den Kopfarbeitern würden bei Dampfgegartem die Hirnströme versiegen. Der Ernährungsumgebung entsprechend entwickeln sich die Gewohnheiten! Aber es gibt für jeden Unsinn einen aufrechten, gut bezahlten Krieger, der sich hinstellt und voller Überzeugung die Leute hinters Licht führt.

Das Recht auf ausreichend gesundes Essen (FAO) bleibt bis auf weiteres ein Papiertiger. Auch das sagt unser Schweizer Affineur: Deutschland sei kein Land für Rohmilchkäse. Obwohl der sogar ein guter Ersatz wäre für Fisch als Quelle von Omega-3-Fettsäuren. Solange wenige Entscheider bestimmen, was in die Regale kommt und über Masse Gewinne einfährt, bleibt für echten Käse wenig Platz.

Kaufleute fühlen sich degradiert zu Geschäftsführern einer Personalleasinggesellschaft. Die Entscheidungen, was in die Regale kommt, fällen die Zentralen, weit weg von den Bedürfnissen der Verbraucher. Die Effizienz ist ja auch verführend. Alles stimmt, wie die Prognose voraussagt. Was kümmert da der Kunde?

Mutige Einzelkämpfer arbeiten noch immer nach dem Kredo ,Kundenwünsche stehen im Vordergrund‘. Und manchen gelingt dabei ein Spagat. Einige Wenige sind dank ihrer Vormachtstellung im Getriebe vogelfrei, die dürfen vormachen, was die Zentralen dann gelegentlich aufgreifen, zum Businessmodell machen und ausrollen für alle. Erfolg überzeugt, darf jedoch nicht dazu führen, dass die Zügel aus den Händen gleiten.

Das liest sich wie eine durchgeknallte Prosa? Ist aber in Wirklichkeit die irre Realität der Lebensmittel-Handelslandschaft im Einklang mit der Lebensmittelindustrie. Wie soll sich die Biobranche dazu verhalten, wenn Bio in den Mainstream strömt? Kniefall? Nö, das will keiner. Ein höf(l)i(s)cher Knicks, sozusagen mit einem Bein nach vorne gestreckt und den Federhut geschwungen. Der ließe sich im Zweifel andeuten und ein starker Anbieter käme so womöglich durch, wenn er mit vielen Kaufleuten direkt handelt. Ehrlich und zukunftsweisend, zukunftsfähig? Nein, das wäre das nicht. Wie also könnte das Problem nachhaltig gelöst werden?

Da gibt es hunderte Quereinstiege. Kleine regionale Aktivitäten, die keinem weh tun. Und so lange sie nicht auffallen, fallen sie nicht ins Gewicht und können geduldet werden. Allerdings sind von solchen Aktivitäten der letzten 20 Jahre nicht viele übrig geblieben. Auch manche feine Bio-Marke kann Gefallen finden. Vor allem, wenn sie ins Getriebe passt. Sollte sich die Passform, wie zuletzt in der Kooperation Alnatura/Edeka, verziehen, ist schnell der Wurm drin. Also alles nur mit kleinen Zeitfenstern. Keine wirklichen zukunftsfesten Realitäten!

Da fehlt jetzt die große Politik. Sie allein wäre in der Lage, den Herrscher-Knoten von zu viel Zentralismus zu knacken und kreative, kundenorientierte Systeme zuzulassen, erst wieder möglich zu machen. Und schon streiten sich wieder die gleichen Geister, darf das Kartellamt Kartelle zerschlagen oder nicht? Für wen gelten die Rechte eigentlich?

Entscheiden freie Kaufleute wirklich selber? Oder sind sie Franchisenehmer, gebunden an die Vorgaben ihrer Vorstufe und eben nicht frei, ihren Kunden zu besorgen, wonach die verlangen? Die Regale sind verplant, da kann der Kunde nicht kommen und Wünsche äußern. Vor allem nicht so absurde wie frische Bio-Salate für einen bezahlbaren Preis oder Fleisch und Wurst, Käse und Brot in Bioqualität oder Obst und Gemüse vom regionalen Biogärtner. Bis zu 60 Prozent Umsatz mit Frische. Da will keine zentrale Vorstufe was davon abgeben. Sie kann nur schwer vor Ort regionale Konzepte umsetzen, allenfalls mitkassieren und so Bio verteuern.

Bleibt also nur der Kotau mit Verzicht auf Bio-Vielfalt und kein Bio-Vollsortiment bei den Lebensmittel-Vollsortimentern, solange die Einkäufer nicht wissen, wie mit der Aufgabe umzugehen ist. Das hilft niemandem, nicht der Bio-Marktentwicklung, nicht den Verbraucherwünschen und auch nicht den Kaufleuten. Hier sollte die Politik eingreifen und die zu zentralistischen Praktiken in die Schranken verweisen. In die Richtung Handels-Lieferanten-Beziehungen gibt es erste Fairhandels-Regelungen von der Allianz Faire und ökologische Marktwirtschaft (FÖM). Die lösen jedoch nicht das Problem Bio-Marktentwicklung.

Erich Margrander
Herausgeber

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