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Editorial

Editorial Ausgabe 116/Juli 2023, 3. Quartal

Liebe Leserinnen, liebe Leser.

Neben der Preistreiberei in der Inflation beschäftigt ein permanenter Treiber die Kaufleute: die aktuellen Trends. Mit der Einfalt von Wiener Schnitzel und Brathähnchen ist heute kein Staat mehr zu machen. Es zählt die kulinarische Vielfalt und Nachhaltigkeit.

Ja, und auch Gesundheit. Vitale Lebensmittel sollen in den Warenkorb. Und auch das ist ein Trend: Die Politik sucht Wege für gesunde Lebensmittel für alle. Sie sollen bezahlbar sein und nichts soll weggeworfen werden.

Der Handel wirbt mit Vielfalt, die Lebensmittelwirtschaft liefert. Rund 100.000 Produkte tragen heute das Bio-Siegel und bilden die Grundlage für Bio-Vollsortimente. Die sind allerdings selten in den Supermärkten zu finden.

Viel vom Gleichen passt besser in die zentralen Systeme. Die Bestückung der Regale ist gut kalkuliert und fest eingeübt. Die IT der Vorstufen spürt die geringsten Abweichungen und schon steht der Bezirksleiter auf der Matte und rückt wieder alles zurecht. Veränderungen passen nur schwer in die Landschaft. Die Kassen­scanner ordern den Nachschub für den nächsten Verkaufstag vollautomatisch. Für Experimente bleibt wenig Raum.

Nach dieser Logik gäbe es heute keine Frischetheken in den Supermärkten, diesen Schluss jedenfalls lässt die Geschichte von Kaufmann Jörg Hieber zu, der entgegen aller Vernunft die erste Fleischtheke in seinen Supermarkt stellte und von den Kollegen nach vielen Monaten Abschriften nur noch bedauert wurde. Bis dann nach über zwei Jahren doch noch die Kehrtwende kam und sich alles zum Guten wendete. Das große Metzgereien-Sterben begann. Das war die Kehrseite. Und die Systeme übertrafen sich mit Billigangeboten so sehr, dass Fleischgenuss total in Verruf geriet.

Das muss jetzt wieder zurückgefahren werden. Dafür kommt ein weiterer Trend zur rechten Zeit daher: der Vegetarismus und der Veganismus. Für dieses Wachstumsfeld gibt es täglich Neuheiten, die vom Marketing regelrecht angebetet und in die Regale getrieben werden. Begleitet von Statistikzahlen, die überzeugen müssen: 60 Prozent Wachstum.

Da hört man dann nicht nur dort, wo Feines Essen und Trinken angesagt ist, dass wir zukünftig für das menschliche Überleben unbedingt synthetisches Feisch brauchen würden. Das liegt also auch im Trend: billig und umweltschonend ohne die unsagbaren Tierquälereien produziert in Reaktoren direkt in den Kiezen vor Ort, so dass sogar das Herumkarren der Lebensmittel überflüssig würde.

Neben nachhaltig auch noch gesund! Das Fleisch würde steril produziert und nicht mehr im Mist und Kot der Kuhställe. Hygienisch sauber wie eine Pille in der Pharmazie. Letztere spielt denn auch eine große Rolle in dem 600- Milliarden-Dollar-Zukunftsmarkt. Sie liefert die Nährlösungen. Ihr Rohstoff kommt zwar auch wieder vom Bauern und fliegt nicht durch die Luft. Aber die Geschichten vom Fleisch ohne Tierleid von vor Ort passen doch wunderbar ins Marketing. Anstelle von Horror-Realitäten können wieder schöne Geschichten von der heilen Welt erzählt und Nachhaltigkeitsbedürfnisse gestillt werden. Wer rettet die Welt? Junge Menschen würden schon ungeduldig warten auf solche Produkte. Umfragen hätten das ergeben.

Kaufleuten werden von ihren Vorstufen solche Industrie-kompatiblen Produktvorstellungen in die Köpfe getragen. Doch sie stehen dann in nicht allzu ferner Zukunft allein vor den Fragen ihrer Kunden, wo sie denn gewesen seien, warum sie ihnen angeblich gesunde synthetische Lebensmittel in die Regale gestellt haben, die aus einem Reaktor kommen?

Am Ende war es einfach nur die Kasse, die Abverkäufe weiterleitet? Wenn Zentralen automatisch für den Nachschub sorgen, müsste doch alles gut gehen. Schließlich verfügen die da oben über das beste Zahlenmaterial.

Zugegeben, mit dem Strom schwimmen ist weniger anstrengend. Über 5.000 Bio-Produkte und rund 2.000 Bio-Frischeprodukte (lesen Sie unseren Leitartikel ,Sortiment als Leidenschaft’ ab Seite 8) liefert heute keine Vorstufe. Darum müsste sich jeder Einzelne selbst kümmern.

Die Transformation zu 30 Prozent Bio-Anteil geht jedoch alle an. Bio vom Acker auf die Teller muss organisiert sein. Mit Bio-Supermärkten allein kommen wir im Jahr 2317 an, beziehen wir die Außer-Haus-Verpflegung mit ein, schaffen wir das etwas früher. Mit Unterstützung der Kaufleute und ihren 10.000 Outlets könnten die Bio-Ziele auch in einer Generation zu schaffen sein.

bioPress hat die Umfrage ,Bio-Vermarktung der freien Kaufleuten’ angestoßen (siehe Seite 5). Wir bitten alle Kaufleute, ihren Teil für die
BIOimSEH-Handelsstrategie beizutragen, die Fragebögen auszufüllen und per Klick abzuschicken. Wir versprechen, schon das Lesen der Umfragebögen öffnet Augen und Sie werden hinterher nicht mehr den gleichen Blick auf Ihre Bio-Vermarktung haben wie vorher.

Erich Margrander
Herausgeber

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