Editorial
Editorial Ausgabe 91/April 2017, 2. Quartal
Liebe Leserin, lieber Leser
Der lange Geduldsfaden wird langsam aber sicher belohnt: Das Bio-Segment in der Lebensmittelwirtschaft segelt mit breiter Unterstützung neuen Ufern entgegen: Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) hat den 20 Prozent Bio-Anteil, den Renate Künast vor 16 Jahren als mittelfristiges Ziel ausgerufen hatte, jetzt neu entdeckt und in ein Programm gegossen. Die Akteure der Branche dürfen hoffen, dass er den Reden auch Taten, sprich mehr Geld für den Ökolandbau, folgen lässt. Derweil überflügelt der Lebensmittelhandel alle Erwartungen und überrascht die Bio-Branche mit 15 Prozent Umsatzwachstum (Fachhandel 6 Prozent). Und Frankreich verzeichnet 20 Prozent Flächenwachstum im Bio-Anbau.
Der Naturkostfachhandel musste, so Insider, seit letztem Herbst Federn lassen und sich mit einem geringeren Wachstum zufrieden geben. Einzig die Preisentwicklung trug zu einer gerade noch positiven Bilanz bei. Die Kundenfrequenz sei zurückgegangen. Auf der Biofach-Messe verkündeten die Marktstatistiker weltweit wachsende Zahlen.
Das ungebremste Bio-Wachstum treibt die Preise. Das zeigen die Zahlen der AMI: Die Konsumer-Ausgaben sind stärker gestiegen als die Mengen, in manchen Segmenten wie bei Kartoffeln und Eiern um fast das Doppelte, bei Obst und Brot um mehr als das Doppelte. Die Ausgaben für Bio-Fleisch stiegen um das Vierfache und bei Wurst um das Dreifache als die Menge. Einzig Käse erreichte in der Menge ein leicht stärkeres Plus als bei den Ausgaben. [mehr dazu - öffnen Sie Seite 77]
Die Zahlen lassen viel Interpretationsspielraum zu. Wenn Aldi teure Rindersteaks einlistet, werden auf einen Schlag sehr viel mehr Edelteile verkauft, wobei dann die Konsumer-Ausgaben bei Fleisch überproportional wachsen. Dennoch steigen beim genauen Hinschauen unter dem Strich die Preise für Bio.
Die Bauern kämpfen derweil um die Hoheit über ihre Produktion, um größere Anerkennung ihrer Arbeit und bessere Preise. Die Naturkostfach-Branche argumentiert auch regelmäßig mit höheren Erzeugerkosten, die sich am Preis niederschlagen müssen. Der LEH macht sich die Argumente zu eigen und aus Bio sein Spitzen-Ertragsfeld.
Die Balance zwischen Glaubwürdigkeit und Bio-Produkten mit umgehängtem Premium-Prädikat tendiert jedoch stark ins Negative. Ein Großteil der Preisgestaltung ist der Marketingabteilung und deren Aufgabe Kasse zu machen geschuldet und wandert eben nicht in die Bauerntaschen.
Die Bio-Branche kann stolz auf ihre Innovationskraft sein, solange es im Kern um die Abkehr von Designer-Lebensmitteln geht. Dreht sich jedoch allzu viel um modernes Marketing - und das gilt insbesondere für die Startups - ist eine Portion Misstrauen angebracht. Die Bevölkerung kann nicht flächendeckend auf Feinkostniveau mit entsprechenden Preisen ernährt werden.
Vor 20 Jahren hat der Slogan ‘Lust auf Genuss’ und ‘Bio - der bessere Geschmack’ die Bio-Branche aus der Öko-Ecke katapultiert. Die Folgen waren ein hoher Aufmerksamkeitswert gerade bei den Multiplikatoren und ein Umschwung des Angebots- in einen Nachfragemarkt mit stetigem Wachstum. Lebensmittelkaufleute aller Couleur müssen heute gesunde Lebensmittel anbieten - und annähernd 100 Prozent der Konsumenten assoziieren damit Bio-Produkte - wenn sie im Wettbewerb bestehen wollen.
So gut wie alle Ministerien, die mit Gesundheit und Ernährung umzugehen haben, beschäftigen sich mit Bio-Produkten. Die Ernährung im Kindergarten, in Mensen und Kantinen bis zur Esskultur im Allgemeinen stehen auf der Agenda. Der Ökolandbau treibt die Ernährungsbranche zu einem bisher unbekannten Nachhaltigkeits-Denken. Die Folge: eine unüberschaubare Label-Flut und oft anstelle von Nachhaltigkeit eine Nachahmungskultur.
Ohne Frage - besser, die Lebensmittelindu-strie ahmt die Bio-Branche nach, als sie exportiert weiter die ungesunde Lebens(mittel)weise in die Entwicklungsländer und steigert so das weltweite Sterben von rund 18 Millionen Menschen pro Jahr infolge von ungesunden Lebensmitteln, wie das aktuell die Experten der University City of London schockiert feststellen mussten.
Was nicht weiter hilft, ist die Fokussierung auf den so nur in Deutschland bekannten Naturkostfachhandel. Keine Frage, wer es sich leisten kann oder will, findet dort ein Bio-Vollsortiment, wenn auch manchmal nicht alles Gewünschte. Die Bio-Branche muss durchlässiger werden. Die Marken der Bio-Hersteller sollten Vorrang haben im Handel vor deren Eigenmarken. Die große Anzahl an Neuprodukten auf der Biofach findet unter den gegebenen Umständen nur schwer einen nachhaltigen Anschluss in den Markt. Was bleibt sind dann die Großen in der Welt, die es verstehen zu bündeln, bis für andere nichts mehr übrig ist.
Erich Margrander
Herausgeber