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Wer ist die Bio-Branche und wenn ja – zu welchem Zweck?
Bio hat in den letzten Jahren einen tiefgreifenden Wandel erlebt – mit irreversiblen Spuren
Machen wir es kurz. Aus einem ganzheitlichen Entwurf für eine gesunde nachhaltige Ernährung ist eine gesetzlich definierte Methode der Urproduktion mit multiplen Umweltleistungen geworden. Eine bürgerliche Bewegung, die für eine zukunftsfähige Lebensgestaltung im Einklang mit der Natur gekämpft hat, wurde zu einem Bio-Marktsegment. Bio-Lebensmittel haben die Mitte der Gesellschaft erreicht.
Es ist nicht mein Ziel zu polarisieren. In der Entwicklung des Bio-Marktsegments brauchte es die PionierInnen, die letztendlich die Ideale zum eigenen Überleben marktkonform umsetzen mussten. Manche von den Akteuren im Bio-Kontext sind noch inspiriert von den Idealen der Bewegungen, anderen sind diese fremd. Aber wenn diese und jene eine ordentliche Bio-Produktion in Landwirtschaft, Verarbeitung und Handel etablieren, ist das gut. Dann ist das die Leistung, auf die es ankommt. Eine Gewissensprüfung ist weder angebracht noch anständig und schon gar nicht zielführend.
Das Problem ist eher, dass die Zielsetzung verloren geht. Es ist plötzlich nicht mehr klar, mit welchen Begründungen Regeln gestaltet wurden. Warum zum Beispiel isolierte und synthetische Aminosäuren für die Tierernährung oder als Nahrungsergänzungsmittel nicht erlaubt sind. Denn diese funktionieren, sind kosteneffizient, was war also nochmal der Grund, sie nicht zu akzeptieren? Entscheidungen in Details können nur erfolgreich getroffen werden, wenn klare übergeordnete Ziele oder zugehörige Konzepte etabliert sind. Und das macht eine Bewegung aus. Dort arbeiten Menschen freiwillig, ohne feste Struktur und leidlich frei von ökonomischen Zwängen an gemeinsamen Zielen.
Und das ist die Situation, in der wir heute stehen. Es gibt viele Akteure am Markt, die Bio machen und nochmal, das ist gut so. Aber die Zielsetzung dieser Akteure ist nicht durchgängig eine gemeinsame, außer in Bezug auf die erfolgreiche Entwicklung des Marktes für Bio-Lebensmittel.
Deshalb stellt sich die Frage nach „Wer ist die Bio-Branche?“ Sind es all diejenigen Unternehmen, die ein Bio-Zertifikat halten? Oder sind es diejenigen, die gemeinsame Werte darüber hinaus teilen? Und wenn ja, welche Werte sind der gemeinsame Nenner?
Das sind die Fragen, die im Raum stehen. Praktisch relevant werden sie zum Beispiel, wenn es um die Formulierung gesellschaftlicher und politischer Zielsetzungen geht. Wer von den Akteuren mit Bio-Zertifikaten forciert das Verbot von Pestiziden, CSRD-Berichterstattung und Lieferkettengesetzgebung, zieht mit beim NGT I-Ausschluss für Bio, kämpft für die KMU und die Regionalisierung von Märkten, für strikte Vorgaben gegen unlauteren Wettbewerb, starke kartellrechtliche Regeln gegen Oligopolisierungstendenzen und faire Gewinn- und Risikoverteilung entlang der Kette oder Subventionen für Agrardiesel? Um nur einige Beispiele zu nennen.
Wenn ja – wie viele?
Auf der Seite des Lebensmitteleinzelhandels nähern wir uns zügig der Schwelle von fast 100 Prozent der relevanten Unternehmen, die bio-zertifiziert sind. Ähnlich ist es mit den Verarbeitern: Auch da halten relevante Teile der Unternehmen (22.380 Bio-Hersteller) eine Bio-Zertifizierung. Etwa 14 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe arbeiten heute nach ökologischen Vorgaben.
Die allermeisten Landwirte stellen den gesamten Betrieb um. Das ist bei Herstellung und Handel ganz anders. Hier produziert und handelt der Großteil der Unternehmen parallel ökologische und konventionelle Lebensmittel: zwischen 1 und 100 Prozent Bio. Es ist vollkommen klar, dass die Akteure sehr unterschiedliche Rollen und damit Möglichkeiten im Markt und der Gesellschaft haben. Wenn man jedoch genau hinschaut, das 30- Prozent-Bio-Ziel im Blick hat und die Zertifizierung zum Maßstab macht, sind perspektivisch alle Lebensmittel-Unternehmen die Bio-Branche. Gleichzeitig wird es in den politischen Zielsetzungen dünn, da die Akteure politisch sehr unterschiedliche Positionen vertreten – nicht zuletzt deshalb, weil für viele das konventionelle Geschäft dominierend ist. Wie viele sind wir also?
Das lässt sich nur über die Frage nach den Zielen beantworten. Die gemeinsamen Ziele und die Weltanschauungen (Plural) waren das, was die Bewegung ausgemacht und stark gemacht haben. Versetzen wir uns in diese Zeit. Im sogenannten landwirtschaftlichen Kurs von Rudolf Steiner ist zum Beispiel weder etwas zur Gentechnik noch über Belastungen durch Pestizide oder zu externalisierten Kosten zu lesen. Und auch das Thema Tier kommt uns nicht entgegen in Quadratmeter-Auslauffläche für die Tiere, sondern als Aufgabe in der Mensch-Tier-Beziehung. Viel im Kurs befasst sich mit der Frage, wie Menschen das richtige Verhältnis zur Natur und den Wesensgliedern finden, die den landwirtschaftlichen Betrieb ausmachen. Und zu sich selbst – auch als Esser. Die Teilnehmer des landwirtschaftlichen Kurses würden ganz oft nicht verstehen, worüber wir heute reden und viele Akteure im Bio-Markt verstehen nicht, worüber damals gesprochen wurde.
Wir benutzen zwar heute auch den Begriff ‚Bio‘ oder auch ‚Öko‘ und wir berufen uns gerne auf die PionierInnen – aber natürlich ist auch dieser Begriffskontext einem ständigen Wandel unterworfen. Alles andere als festgefügt, weil die Notwendigkeiten und die Gesellschaft sich ändern. Und das ist gut so!
In meinem persönlichen Beobachtungszeitraum von nun mehr als 40 Jahren ist in den Vorstellungswelten, die sich um den Begriff Bio ranken, viel passiert. Um 1980 herum brodelte in einem Teil der Jungend die Idee einer anderen Art von Leben. Man benutzte auch das Wort der ‚Alternativen‘. Was es sehr schön auf den Punkt bringt – auf der Suche nach einem ‚alternativen‘ Lebensentwurf. Eigentlich wurde so ziemlich alles in Frage gestellt. Unter anderem auch die Form, wie wir uns ernähren, wie wir das Land bewirtschaften, welche Lebensziele verfolgt werden. So konnte man als Lebensgefühl schon sehr stark wahrnehmen, was heute als postmateriell bezeichnet wird – die Zeit der Aussteiger. Und alles getränkt von deutscher Romantik.
Vieles, was in dieser Zeit gedacht und ausprobiert wurde, ist gescheitert. Einiges hat sich durchgesetzt. So sind zum Beispiel Solarmodule und Windräder heute allgegenwärtig, genauso wie die Bio-Produkte in den Regalen. Und das ist gut so!
Langsam entstand das, was wir heute Bio-Branche nennen. Vollwertige Produkte, alternative Produkte, Bio-Produkte und eine Mischung davon gab es nur in speziellen Läden, die gleichzeitig politische Orte waren. In Naturkostläden, in Vollkornbackstuben oder direkt am Hof, am besten in der Hand einer alternativen Lebensgemeinschaft, wurde Handel betrieben. Mit großem Vergnügen erinnere ich mich an diese Zeit.
Heute ist Bio eine rechtlich gesicherte Qualitätseigenschaft von Produkten geworden, die in allen Vertriebskanälen angeboten wird. Viele Menschen werden mit dieser Ware erreicht und das führt zu einer erfolgreichen Ausdehnung des biologischen Anbaus. Es darf als wissenschaftlich erwiesen angesehen werden, dass dies ein wichtiger Beitrag zu Umweltschutz ist. Dazu war es jedoch auch notwendig, eine ganze Reihe von alternativen Bio-Ideen zu beerdigen: zum Beispiel die von vollwertigen Lebensmitteln und Ernährung, regionalen Versorgungsstrukturen, vom Konzept ‚Essen ist politisch‘ oder die von der neuen, besseren, faireren Handelsform, weit weg von den Oligopolen des Einzelhandels.
Die alten Ziele kommen nicht wieder. Auch wenn ich durchaus Vergnügen dabei empfinde, wenn ich den ein oder anderen Text zu regenerativer Landwirtschaft, Veganismus oder Agroforst lese und die Inhalte mir sehr bekannt vorkommen. Vieles kommt zurück im neuen Kleid?
Für die junge Generation, auch die NachfolgerInnen in den Bio-Unternehmen, ist Bio das Projekt der Eltern. Im besten Falle solide Vergangenheit, auf die man aufbauen kann und will. In Bezug auf Bio bleibt nur noch eine Herausforderung: Ausdehnung – die Economy of scale – mitzugestalten. Politische Macht in den tradierten Strukturen zu etablieren. Für einige ein Erfolgsmodell.
Heute ist es jedoch auch klar: Bio-Landbau allein ist kein ausreichendes Konzept für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem. Es ist nur ein Bestandteil. Innovationen sind nötig. Wie finden wir heraus, wer die neue Bewegung für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem (und entsprechende Lebenskonzepte) ist? Ich empfehle zunächst die „alten Bilder vom Neuen fallen zu lassen“. Sich freizumachen für tatsächlich Neues und nicht in die Falle zu tappen, alte Strukturen und Konzepte einfach zu verteidigen und fortzuschreiben. Konservative Kräfte sind stark auch bei den Bios. Das ist jedoch das Gegenteil der dringend notwendigen Klärung und der Offenheit für tatsächliche Neuerung. Also – nur Mut zum Neuen.
Das Labor für diese Neuerungen auf der Ideenebene ist die Gesellschaft. Es geht um die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen in einer sich immer schneller verändernden Welt. Ich empfehle hinzuschauen, was ausgebrütet wird an neuen Impulsen für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem – hinzusehen zu den sozialpolitischen Bewegungen unserer Zeit. Denn es gibt sie: die Erneuerer, die Visionäre, die Pioniere. Wir sollten anschlussfähig bleiben. Möglicherweise geht für eine neue Bewegung der Begriff Bio verloren, aber das ist nicht schlimm, wenn die Richtung hin zu einer zukunftsfähigen Welt gestützt wird. Von jeder Position aus können dafür Impulse gesetzt werden. Ich bin da persönlich neugierig.
Dr. Alexander Beck