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Editorial

Editorial Ausgabe 99/April 2019, 2. Quartal

Liebe Leserinnen, liebe Leser.

Massiver Druck vom Naturkost Groß- und Fachhandel auf die Hersteller soll verhindern, dass sich die Tore weiter öffnen. Es ist kein Geheimnis mehr, dass der Lebensmittelhandel anders an die Bio-Vermarktung heran geht als noch vor zehn Jahren. Damals war schon gut, wer 1.000 Bio-Artikel führte. Supermärkte mit bis zu 7.000 Bio-Artikeln zeigen, wie es heute geht. Jahresergebnis: 20 Prozent Umsatz-Anteil, eine Größenordnung wie der komplette Umsatz eines guten Bio-Supermarkts.

Lebensmittelkaufleute bieten ihren Kunden nachhaltige Sortimente. Und es gibt Lieferanten für die Biomarken im LEH, die sich der Fachhandel vorbehalten will. Sie stehen in den Regalen und doch wagt sich keiner aus der Deckung: Nicht Naturkost West, nicht Landlinie, nicht Claus oder Ökoring. Und auch nicht die Hersteller mit Fachhandelsneigung wie Antersdorfer Mühle, Davert, Bauck, Andechser oder Söbbeke und viele andere.

Unterwegs auf Messen und Konferenzen wird das Thema offen ausgesprochen: Die Zeitenwende. Alle bevölkerten sie die Messestände auf der Biofach. Einkäufer vom LEH und Kaufleute gaben sich mit den Naturkostfach- und Auslandsakteuren die Klinken in die Hand, Berichten zufolge neuerdings auch der Fachhandel bei konventionellen Herstellern mit Bio-Angeboten.

Genuss, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Tierwohl und Fairness zu handeln macht einfach Spaß. Wenn dabei die ursprünglichen Ziele, gesunde Bio-Lebensmittel nachhaltig für alle zu produzieren, vielfach den Egoismen geopfert werden und aus dem Tritt geraten sind, was soll‘s?
Das III. World Organic Forum feierte Protagonisten mit 100 Prozent Bio im Programm. Sikkim, das Saarland der Inder, hat das Ziel schon erreicht, andere Länder sind flott auf dem Weg. Ein Wunder? Und so gar nicht gelenkt von unserer westlichen Bio-Zivilisation? Wir mit unserem Anspruch müssten doch die ersten sein!

Nein, Sikkim oder Andhra Pradesh sind keine Bundesstaaten in China, mit dessen Demagogie so ein Ziel per Ordre de Mufti eher denkbar wäre. 100 Prozent Bio funktioniert in Demokratien! Es gibt Beispiele, die von unten als Graswurzelbewegung kommen und andere, die von der Bürokratie her getragen werden. Auch Landwirtschaftsminister selbst sollen mit von der Partie gewesen sein. Freilich nicht Leute wie Minister Peter Hauk in Baden-Württemberg oder die Spaßbesetzung in Berlin, die mit Ratschlägen wie Pestizideinsatz im Biolandbau den Bauern das Leben erleichtern will, wenn es brenzlig wird. Mit einem Salto rückwärts der Natur ein Schnippchen schlagen?

Auf dem beschwerlichen Weg der Konvertierung aus der von der Chemie getriebenen Landwirtschaft hin zu einem nachhaltigen Anbau gänzlich ohne Agrogifte standen viele Kräfte Kopf und erklärten die Macher für irre. Und doch hat es funktioniert und verbreitet sich gar weiter mit dem Ergebnis besserer Ernten und Gesundheit in der Bevölkerung.

Bei uns macht der Markt aus Bio ein Premium-Produkt, verschleudert die Gelder der Verbraucher. Die Frage des Urgesteins Hardy Vogtmann, wie viel die Biobauern bei uns vom Kuchen abbekommen, ist berechtigt.
Hier herrschen die Vermarkter mit ihren Marketingabteilungen und PR-Agenturen. Jeder Anbieter strebt möglichst auf Platz Eins. Derweil werden in Dänemark und Österreich EU-Gelder für Bio-Gemeinschaftswerbung eingesetzt mit dem Ziel, Bio stärker ins Verbraucher-Bewusstsein zu hieven.

Sollte Bio im Mainstream nicht für alle bezahlbar gemacht werden? Es ist schon befremdlich, von einem Land, in dem die Bewohner eher in ärmlichen Verhältnissen leben, zu hören, dass Lebensmittel gesund sein sollen. Seit Beginn des Projektes Sikkim sei die Lebenserwartung um zehn Jahre gestiegen. Und hier in der westlichen Welt streiten sich Wissenschaftler um die Frage, ob es sein könne, dass gesunde Lebensmittel auch die Gesundheit der Menschen beeinflussen. Ja, spinnen die?

Klar, die Frage nach der Art unserer Wirtschaft ist berechtigt. Scheint doch hinter jeder Ecke der Schatten der Schizophrenie zu lauern. Vielleicht ist das schon das Geheimnis der Inder. Die haben hundert Religionen, tausend Sprachen und tausend Götter, da fallen Schatten nicht mehr ins Gewicht. Die machen das und fragen nicht ängstlich, was die Agrochemie dazu sagen würde.

Wenn also deutsche Kaufleute Bio in ihre Regale bringen wollen, stellt sich zuerst die Frage, ob man sie lässt! Lässt man sie, verkaufen sie auch mal 4.000 Bio-Mangos die Woche, weil der Großhandel bei den Mengen einen guten Preis machen kann. Doch Bio-Vielfalt in den Regalen fordert die Kaufleute heraus. Sie müssen für ihr Outlet dann schon auch mit mehreren hundert Lieferanten zurechtkommen, weil keine Vorstufe die notwendige Vielfalt bündeln und liefern will.

Erich Margrander
Herausgeber

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