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1. Fair & Square Table

Eine Initiative von bioPress mit dem Ziel: Mehr Bio in den Lebensmitteleinzelhandel

Fair & square - unter diesem Motto hat der bioPress-Verlag im April dieses Jahres maßgeblich Beteiligte des Biohandels an einen Tisch gebracht; eine Zielsetzung, wie sie zuletzt in den Kölner Bio-Handels-Foren von 2004 bis 2008 stattfand. In kleinen aber feinen Gesprächsrunden soll am Fair & Square Table der Bio-Kongress Anuga 2019 vorbereitet werden. Der Einladung sind Vertreter aus den Bereichen SEH, Großhandel, Hersteller, IT und Verband gefolgt.

Schaut man auf den Umsatz-Anteil von Bio im LEH so ist dieser schon seit annähernd 20 Jahren größer als der aller anderen Bio-Vertriebswege zusammen genommen. Grund ist die flächendeckende Präsenz der Outlets, und es ist der LEH, in dem die deutschen Verbraucher ihre Lebensmittel einkaufen.

Mit diesem Wettbewerber tut sich der Naturkostfachhandel schwer. Er hat grundsätzlich nur Bio im Angebot und hält viel weniger Standorte. Die LEH-Vorstufe wiederum hat Bio-Produkte nur marginal integriert und kann den Lebensmittelkaufleuten nicht die gewünschte Vielfalt eines Bio-Vollsortiments liefern.

Der selbstständige Einzelhandelskaufmann kann vieles aus dem Biosortiment von seiner Vorstufe beziehen – aber eben nicht alles. Der Bio-Großhandel und die Hersteller sind in ihrer Handlungsfreiheit durch die immer noch eingeforderte Fachhandelstreue eingeschränkt.

Eines ist unbestritten: Der deutsche Biomarkt wächst ständig weiter und wird für Lebensmittelkaufleute in ihrer Rolle als Grundversorger immer wichtiger. Mit 20 Prozent Bio-Anteil im deutschen Lebensmittelmarkt und mehr rechnen Marktplayer und inzwischen auch weite Kreise in der Politik. Das bedeutet ein Umsatzwachstum auf über 40 Milliarden Euro. Die Frage ist, ob dieser Markt weiter im Wildwuchs gedeiht, oder ob sich Kräfte zu einer gemeinsamen Moderation und damit einer gezielteren Entwicklung zusammen finden.

Läuft alles rund oder doch nur kantig?

Diese dringenden Zukunftsfragen sollten beim 1. Fair & Square Table besprochen werden: Eine Runde, in der offen und ehrlich aber eben nicht am runden sondern am eckigen (square), kantigen Tisch geredet wird. Dieser Ausdruck wurde vom Verlag mit Bedacht gewählt: Denn wirklich rund läuft derzeitig selten etwas in der Bio-Vermarktung im LEH. So steht Fair & Square Table für Zusammenkünfte, in denen die Teilnehmer sich schwierigen Aufgaben gegenüber sehen und wo im fairen Miteinander Lösungen gefunden werden sollen, die letztendlich allen Beteiligten einen Gewinn bringen.

Es ist ein Satz von Jörg Hieber aus Lörrach, dem mehrfach ausgezeichneten Branchen-Urgestein und über lange Jahre Aufsichtsratsvorsitzender der Edeka AG, der an den Anfang der Diskussion gestellt wurde: "Der Handel ist nur so gut wie seine Vorstufe". Die bioPress-Redaktion hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Richtigkeit dieser Äußerung bestätigt bekommen.
Diese Erfahrungen münden auch in der Meinung, dass die unterschiedlichen Akteure im Biomarkt aneinander vorbei agieren. Die einen verschließen sich und grenzen andere aus, während andere von einem Trend zum nächsten springen. „Doch es gibt eine Konstante und das sind die Bauern, sie alleine sichern die Bio-Entwicklung mit ihrem vollen Einsatz“, so eine Feststellung zum Auftakt der Runde.

Viel Debatte, wenig Rücksicht auf den Kunden

Der Edeka Kaufmann Steffen Uelzhöfer bestätigte diese Einschätzung aus seiner Sicht als selbstständiger Einzelhandelskaufmann: Die Situation sei „unglücklich“, lange Zeit wurde der SEH von Großhandel und Herstellern geschnitten. Auf den einschlägigen Messen war es schwer für ihn, Termine eingeräumt zu bekommen. Dabei sind Einzelhändler wie er und seine Kollegen deutschlandweit lokal und regional gut vernetzt und schon seit geraumer Zeit stark an Kooperationen mit Bioanbietern interessiert. Er würde den Bioprodukten gerne mehr Regalfläche in seinen Märkten einräumen.

Auch er kennt die Zahlen, die die Biobranche geradezu beflügeln: Sowohl die realen zehn Milliarden Euro Umsatz im vergangenen Jahr, allein in Deutschland, als auch die bis 2030 erwarteten 20 Prozent Bio-Umsatzanteil am Gesamtmarkt. An diesem 40 Milliarden Euro-Geschäft wären viele gerne beteiligt. Es kann heute nicht mehr darüber diskutiert werden, wer teilnehmen darf und wer nicht.

Diese Debatte geht nach Ansicht des Einzelhändlers sowieso am Hauptakteur vorbei: dem Kunden. Dessen Grundbedürfnis zu erfüllen, den Einkauf an einem Ort vollständig zu erledigen, habe niemand im Visier. „Wenn wir das nicht schaffen, dann bedient sich der Kunde irgendwann online. Damit hätten wir alles falsch gemacht, was wir falsch machen können und treiben die Kunden in die Arme des Online-Handels“, so Ueltzhöfer während des Gesprächs. Das Nebeneinander der Naturkostfachmarken und der von denselben Herstellern eigens geschaffenen LEH-Biomarken hält er für kontraproduktiv, da dies zu erhöhten und vermeidbaren Kosten führe.

Marke oder Zweitmarke?

Für den Kaufmann sind es die qualitätsorientierten Marken der Biobranche, die wichtig sind. Wer diese Marken in seinem Sortiment vertreten sehen will, setzt sich häufig mit dem Thema intensiv auseinander und definiert sich auch persönlich als bio-affin. Hier geht es um die eigenen Konsumgewohnheiten, und auch um die des sozialen Umfelds, angefangen bei der Familie zu Haus, bis zur Ernährung der eigenen Kinder in Kindergarten, Schule und Vereinen. Lebensmittelkaufleute leben von der großen Nähe zu ihren Kunden. Ihre soziale Einstellung ist von ihrer nahen und weiteren Umwelt geprägt.

Umso enttäuschender, wenn die von den bekannten Verbänden zertifizierte und gesiegelte Ware, die sie gerne in ihren Regalen sehen möchten, für sie aus oben genannten Gründen oftmals nicht erhältlich ist. Zudem trauen die Kaufleute ihrer Vorstufe auch nicht zu, kurz- oder mittelfristig Bio-Vollsortimente in der benötigten Vielfalt liefern zu können. Und schließlich sind die Loyalitäten gegenüber der eigenen Vorstufe in jahrelangen Prozessen gewachsen, da möchte man sich nicht in unabwägbare Abhängigkeiten von einem bisher tendenziell abweisenden Bio-Großhandel begeben.

Auch werden Waren bevorzugt, die aus der jeweiligen Region kommen. Namenlose Herkünfte hätten die Kaufleute mehr als genug zu bieten. So würde der Bio-Joghurt den Edeka Ueltzhöfer von dem nächstgelegenen Bio-Großhändler auf die Palette bekäme, dann aus dem entfernten Norddeutschland stammen; denn mit dem nahe gelegenen, regional verankerten Hersteller habe der Großhändler keine Lieferverträge abgeschlossen.

Ein weiteres Problem: die Mindestbestellmengen. Werden diese nicht erreicht, müsste Bioware, die über die eigene Vorstufe erhältlich wäre, in die Bestellung des Bio-Großhändlers umdis- poniert werden - per se ein Affront?

Vernetzung durch Bioplattform?

An dieser Stelle greift eine schon seit Jahren vom bioPress Verlag verfolgte Idee: eine virtuelle Bioplattform, auf der sich alle Akteure aus LEH, GH, die Hersteller, die Verbände und der Anbieter mit Hilfe einer umfangreichen Produkt-Datenbank miteinander vernetzen. Detaillierte Ausarbeitungen zur Realisierung liegen dazu vor. Dies könnte das Wachstum des Biobereiches im LEH entscheidend beschleunigen; und im LEH liegt die Zukunft der Ausbreitung von Bio - das wissen alle an der Debatte Beteiligten. Schon heute - für manche der Bio-Pioniere eine traurige Wahrheit - kann sich der Discounter Aldi als der größte Biohändler und Treiber des Biosektors bezeichnen.

Dazu äußerte sich Steffen Ueltzhöfer mit einer Spekulation: Seiner Meinung nach wird sich das Biosegment im SEH in Richtung Fachhandel entwickeln und flächendeckend auch ländliche Gegenden mit Bio versorgen. Das machen Kaufleute, die sich vom Standard abheben wollen, schon heute, indem sie ihren Kunden ein Bio-Vollsortiment anbieten, wie es im gut sortierten Naturkost-Fachhandel zu finden ist.

Für die kleinen oder mittleren Hersteller sei es schwer, aus einem 15 bis 20 Artikel breiten Fachhandels-Sortiment extra eine zweite Marke für den LEH mit dann anfangs wenigen Kernartikeln zu produzieren. Ganz abgesehen davon wären die Lebensmittelkaufleute an denen dann nicht interessiert, wenn die auch in jedem x-beliebigen Supermarkt im Regal stünden. Dem Selbstverständnis der selbstständigen Kaufleute entspräche eher die hochwertige Ware mit dem tiefen Sortiment, das die Ansprüche an Vielfalt erfüllt.

Es gehe um Wertigkeit der vertretenen Marken, das sehe man anhand der Umsätze der Discounter. Da diese seit geraumer Zeit nicht mehr wachsen, machen sie Druck mit Markenartikeln. Diese Strategie sei so auf den Bio-Wachstumsmarkt übertragbar und hierbei wäre die vorgestellte Bio-Plattform hilfreich; andererseits würde mit der Aufhebung der Ideologie-Schranke eine grundsätzlich andere Situation für den SEH geschaffen - und damit eine solche Plattform wiederum überflüssig. „Der LEH — insbesondere die selbständigen Kaufleute, sehen sich in der Bio-Vermarktung als zuverlässiger und leistungsfähiger Partner für die Zukunft — möchte diesen Weg mitgehen und aktiv gestalten."

Ist das noch freie Marktwirtschaft?

Ein Teilnehmer führte aus, dass für den Bio-Großhandel Ähnliches gelte, jedoch in seiner Umkehrung. Auch der Bio-Großhandel fühle sich den gewachsenen Strukturen des Naturkost-Fachhandels verpflichtet und müsse aufpassen, dass ihm nicht die Felle davon schwimmen, wenn der Fachhandel ihn auslistet. Die Großhändler stecken in der Klemme, wenn der SEH das Original und nicht die eigens geschaffene LEH-Marke gleichen Inhalts einfordere. Doch auch er konstatiert: Aus existenzieller Notwendigkeit muss sich die Branche dem SEH vollumfänglich öffnen.

Es gibt zig Tausende selbstständige Lebensmittelkaufleute mit geschätzt mehr als 9.000 Outlets; das ist ein riesiges Potenzial für flächendeckende Bioangebote, getreu dem nicht erst seit dem Markteintritt des ersten Bio-Supermarktes propagierten Motto ,Bio für alle‘. Und: Protektionismus hat einer allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung eines Marktsegments am Ende immer geschadet.

Die Hersteller

Auch die Hersteller stecken in demselben Dilemma fest: Sie sind zu Investitionen verpflichtet und müssen dafür auch die neuen Absatzmärkte berücksichtigen. Doch die Fachhandelsmarken können sie nicht für den LEH einsetzen, da die Hersteller mit Auslistung im angestammten Markt rechnen müssten.

Ein teilnehmender Hersteller berichtete beispielsweise von der Schaffung einer Marke speziell für den LEH mit vier bis sieben Kernprodukten aus seinem Sortiment. In einer einjährigen Testphase belieferte er, obwohl seine Logistik nicht darauf ausgelegt war, eine Reihe LEH- und SEH-Supermärkte.
Die Produkte fanden guten Absatz und nach der Anlaufphase sollte das Sortiment in das Zentrallager der LEH-Vorstufe aufgeschaltet werden. Doch trotz guter Verkaufszahlen und eines extra eingestellten Mitarbeiters für den Vertriebsaußendienst versandete die Aktion und wurde zum Nullsummenspiel.

Paralell nahm ein großer Filialist das Konzept mit Erfolg an und listete ihn bundesweit. Und erst im zweiten Anlauf scheint nun auch die Belieferung des LEH/SEH-Partners zu gelingen, allerdings weiter auf Strecke und nicht, wie ursprünglich verabredet, über das Zentrallager. Das führt dazu, dass der Produzent nun die dauerhafte Belieferung auf Strecke lernen und professionalisieren muss.

Sein Fazit daraus: Irgendwer wird diese Marktlücken besetzen und wenn die Fachhandelstreue gehalten werden muss, werden andere von den Entwicklungen im LEH profitieren. So sei es durchaus vorstellbar, dass ein konventioneller Hersteller eine Bio-Produktion aufnimmt und mit massiven Investitionen in den Markt drängt. Ist dieser nicht zuvor qualitativ hochwertig besetzt, wird es schwierig, sich zu behaupten.

Blick über den Tellerrand

Werfen wir doch mal einen Blick in die Schweiz, das kleine Niemandsland mitten in Europa. Während bei uns seit Jahrzehnten erbitterte weltanschauliche Grabenkämpfe stattfinden, wurde die Schweizer Coop zum Vorreiter für nachhaltigen Einzelhandel. Mit heute mehr als einer Milliarde Bio-Umsatz allein bei Coop, war sie Treiber für den ökologischen Landbau, zuhause, europa- und weltweit. Bio ist dort im Mainstream angekommen und wächst stetig. Und wem nützt das am meisten? Den Verbrauchern.

Thomas W. Baier /
Erich Margrander

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