Editorial
Editorial Ausgabe 115/April 2023, 2. Quartal
Liebe Leserinnen, liebe Leser.
Die Stimmung auf der Biofach konnte man fast erotisch nennen. Alle wollten, wenige trauten sich. Der Umsatzrückgang muss ausgeglichen werden. Wenn das im Naturkostfachhandel nicht funktionieren wird, wie der BNN für 2023 voraussagt, dann müssen andere Wege her. Wie sonst sollte das ambitionierte Ziel 30 Prozent Biolandbau mit entsprechender Vermarktung erreicht werden?
Die Behauptung eines führenden Naturkostherstellers, aber wir liefern doch an den LEH, hält der Wirklichkeit nicht stand. Hier und da kommt das eine oder andere Bio-Markenprodukt bei den Kaufleuten im SEH an, ja sogar im Einzelhandel wie tegut, Drogeriemärkten, vereinzelten Großflächen und, seit neuestem, bei Edeka auch geballt als Naturkind-Welten. Ein Shop-in-Shop-System mehr öffnet jedoch nicht die Türen für Bio in die Normalität der Supermarktregale. Sie wirken eher wie ein Ghetto, wenn auch ein nobles Ghetto.
Neben vielen regionalen und lokalen Aktivitäten, die Bio erfolgreich in die Zentren tragen, wie Berlin/Brandenburg beispielhaft zeigt, fehlen Strategien für 80 Millionen Deutsche, die auch in der Fläche angesiedelt sind. Bio soll neben allen herkömmlichen Produkten stehen und den Verbrauchern die Wahl überlassen.
Ein Weg für mehr Bio wäre eine Durchdringung der Außer-Haus-Verpflegung. Das kann helfen, jedoch nicht allein die Grundlage für ein Drittel des Lebensmittelverbrauches in Deutschland sein. 30 Prozent Bio-Rohstoffe und Bio-Produkte wird nur mit der privaten Nachfrage für die Küchen der Verbraucher möglich.
Der Weg über die Eigenmarken des Handels und der Absatz über die Discounter zeigt deutlich, wohin die Reise geht. Sie vermarkten bereits zwei Drittel der Biolebensmittel. Allerdings mehr nach dem Motto viel vom Gleichen. Das wollen die Verbraucher nicht und die Anbieter bleiben mit ihren Markenangeboten auf der Strecke. Der Naturkostfachhandel bringt noch 20 Prozent Bio mit sinkender Tendenz in den Markt. Bioläden und Bio-Supermärkte werden ihren Platz als Fachhandel finden, aber nicht ganz Deutschland versorgen können.
Nach längerem Verharren scheint jetzt die Luft heraus zu drängen. Alle sagen, wir wollen, aber nur wenige outen sich und gehen offen den Weg in den Mainstream. Hersteller, die mit ihrer Bio-Marke überleben wollen und sich als Abfüller für die Handelseigenmarken unwohl fühlen, müssen direkt auf die Kaufleute mit ihren rund zehntausend flächendeckenden Outlets zugehen. Die Vollsortimenter im SEH werden, nach den Discountern und den preiswerten Eigenmarken der LEH-Zentralen die nächsten Treiber der Biovermarktung sein.
Die Kaufleute können Vollsortiment und Markenvielfalt in großen und in kleinen Flächen. Dazu gehört heute auch ein umfassendes, möglichst vollkommenes Bio-Sortiment. Allein, es fehlt der Zugang zu ihnen. Sie sind in der Region und auch lokal verwurzelt. Ihnen traut man die wichtigen Eigenschaften zu, die der Naturkostfachhandel immer für sich allein reklamiert: Kundennähe, intensive Beziehungen zu Lebensmitteln, Vertrauen und Verlässlichkeit, Frische- und Beschaffungs-Expertise, sie sind zu Hause in den Metropolen und auch auf dem Land. Die Kaufleute sind in der Bevölkerung bekannt und oft auch sozial engagiert in der Bürgergesellschaft.
Kaufleute sind nur so stark wie ihre Vorstufe. Wenn die Zentralen die Daumenschrauben anlegen, ist das kontraproduktiv. Sie regeln heute alles über ihre Warenwirtschaft. Wird die – wie bei Rewe – dicht gemacht, haben die Bio-Anbieter nur die Chance über die Einkäufer, die sich hauptsächlich mit ihrem herkömmlichen Sortiment beschäftigen und ihre Machtposition pflegen. Sie leben von den 93 Prozent des Umsatzes. Im Bio-Segment kennen sich die wenigsten aus.
Die Lehrpläne im Handel sind noch weniger als die in der Landwirtschaft auf Bio eingestellt. Auch dort müssen flächendeckend Ansätze gefunden werden. Das ist bis heute einzelnen wenigen überlassen und dann auch eher an den Hochschulen, nicht an den Berufsschulen.
Die Ergebnisse der öffentlichen Beteiligungs-Prozesse für die Zunkunftsstrategie ökologischer Landbau ZöL wurden auf der Biofach vorgestellt. Vertreter der Verbände und der Handelszentralen kamen neben Einzelprojekten mit letzten Eingaben zu Wort. Die Selbstständigen Kaufleute waren nicht vertreten. Bleibt zu hoffen, dass der Hinweis auf den SEH vom bioPress-Herausgeber nach dem ersten ZöL-Abschluss Mitte März noch Früchte tragen kann.
Erich Margrander
Herausgeber