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Editorial

Editorial Ausgabe 112/Juli 2022, 3. Quartal

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Liebe Leserinnen, liebe Leser.

Es war nicht wirklich zu hoffen, dass dieses Editorial ohne den aktuell üblichen permanenten Krisenbezug geschrieben werden könnte. Bio ist ein derart träges Projekt – seit Jahrzehnten kommt es nur sehr langsam voran – dass Vorträge 'alter Hasen' von Jammern geprägt sind. Weltweit zwei Prozent Bioanteil hört sich ernüchternd an. Da hat der Hase recht! Dann kommt da ein Putin daher und wirbelt alles derart durcheinander, dass plötzlich alles möglich scheint. Und es bewegt sich doch.

Ist die neue politische Konstellation einfach vom Himmel gefallen oder hat sie auch etwas mit den Anstrengungen der Biobranche zu tun?  Die sich in dieser Krise wieder als die Resiliente zeigt! Mehrere Krisen des letzen Vierteljahrhunderts hat die Biobranche mit weiteren Aufwärtstrends gemeistert. Wäre das dann nicht eher ein Grund zur Hoffnung? Zugegeben, auch ich dachte vor 30 Jahren nicht, dass so viel Zeit ins Land gehen würde, bis sich der Wind dreht.

Vor 22 Jahren, an dieser Stelle, beschwor ich die schöne neue Biowelt, in der alle Bio kaufen, Bio im Kindergarten die ganz Kleinen schon einstimmen sollte auf gehaltvolle Ernährung statt Süßkram, in Mensen und in den Kantinen der arbeitenden Bevölkerung Bio-Lebensmittel für mehr Vitalität sorgen als der übliche Dampfpapp, in Krankenhäusern und Altenheimen naturnahe Ernährung Kraft für mehr Gesundheit bringt und, ja nicht zuletzt, für unterwegs tatsächlich Bio auf den Speisekarten in der Gastronomie angeboten würde, damit meine Wege weg vom eigenen Herd stressfreier gestaltet werden könnten. Nicht hin zum Ziel und gleich wieder zurück, weil das gewohnte gute Essen anders interpretiert war und ich so schnell wie möglich wieder zurück in die häusliche Realität drängte.

Alle deutschen Landwirtschaftsministerien haben heute Themen rund um Bio und gesunde Ernährung auf dem Spickzettel und vieles sogar in ihren Programmen stehen. Allein dies ist ein Frohlocken wert und kein Grund für Alters-Resignation.

Mehrere große Jubiläen von der IFOAM, Naturland, Bioland... zeigen, dass Bio keine Eintagsfliege ist. Und heute, wo lebenslanges Lernen angesagt ist, können sogar im Alter noch Impulse aufgenommen und vorangetrieben werden. Freilich nicht, wenn man sich in die Rente zurückzieht. Und es zeigt sich – jedenfalls mir – vitale Ernährung hält fit und leistungsfähig. Und eine gesunde Lebensgrundlage macht kämpferisch gegen Inkompetenz, Irrglauben, Unterdrückung und Versklavung für die Ziele des immer mehr, immer besser oder ständigen Wachstums. Unerschöpflich ist nur der Geist, das Leben ist endlich. Wie war das: Es gibt nur einen Geist und viele Leben.

Die Botschaft ist nicht mehr, Bio sei auf dem Weg in den Mainstream. Bio bewegt sich jetzt im Mainstream. Dazu passend braucht es ein neues Denken. Die Klassenschranken, hier der Naturkostfachhandel dort der trübe Biorest, der immer die Frage nach der Echtheit aufwirft, fallen. Bio für Alle geht nur mit Allen. Und die Vorstellung von 100 Prozent Bio wird nicht mehr nur vom Naturland Verein getragen. Sie ist bald überall gegenwärtig. Die verzweifelten Fakenews vom Verhungern ohne die Agrochemie wirken langsam lächerlich.

Grüne Politik nimmt Gestalt an. Die Bundesregierung, Europa und Entwicklungen in der gesamten Welt formulieren hohe Ziele für den Ökolandbau. 30 Prozent Bio ist bei uns angepeilt. Der Mainstream scheint das der Politik aufgegeben zu haben. Das Ziel fußt auf einer breiten Grundlage.

Die aktuellen 16 Milliarden Euro Bioumsatzanteil sollen also wachsen auf dann rund 60 Milliarden Euro. Stellt sich die Frage, wer das in die Hand nehmen wird. Die großen Verbünde wie Edeka und Rewe oder andere Handelsriesen? Soll das den Aldis dieser Welt überlassen werden, die zugegebenermaßen keinen so schlechten Bio-Job machen? Bio ist heute im konventionellen Handel meist als Eigenmarke unterwegs. Schließlich will man von der schönen neuen Welt profitieren. Der Handel will auch Vertrauen fischen mit Nachhaltigkeit. Das geht bisher in der Nische.

Doch was ist, wenn Ernst gemacht wird und 20- oder 30-Prozent-Ziele im Handel ausgegeben werden müssen, um am Ball zu bleiben? Werden dann die Danones dieser Welt aufspringen und das Rennen um die Bioumsätze an sich reißen? Will die Biobranche eigene Pläne und resiliente Systeme entwicklen oder hat sie die schon?

Die Reaktion auf die neue Bio-Dynamik ist eher von Unsicherheit geprägt. Die Biocommunity muss die Qualität aufrecht und die Fäden in der Hand halten. Wenn Bio an die Shareholder abgegeben wird ,um dann wieder nur dem Mammon gerecht zu werden, war vieles umsonst. Diese Entwicklung ist seit 20 Jahren auch schon in der Bio-Community zu verfolgen. Neue, der Kapitalpolitik in nennenswerter Weise widerstehende Systeme sind weit und breit nicht oder nur selten sichtbar.

Erich Margrander
Herausgeber

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