Nachhaltigkeit
Bilanzen, die die Wahrheit sprechen
Mit True Cost Accounting sollen Wahre Preise geschäftsfähig werden
Was gut für den Geldbeutel ist, ist nicht unbedingt gut für die Umwelt. Die Frage ‚Wie misst man Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit?‘ steht bei der Kalkulation Wahrer Kosten als Problem im Raum, auf das es wohl noch keine einheitliche Antwort gibt. Die True Cost Initative will das ändern und ein stan- dardisiertes Kalkulationsmodell etablieren.
Das Bewusstsein für das marktwirtschaftliche Versagen, wenn es um nachhaltiges Engagement für Natur und Gesellschaft geht, ist schon lange präsent. Eine Pionier-Idee zur Bepreisung der Wahren Kosten war die Nachhaltigkeitsblume, die 2009 von einer Gruppe globaler Bio-Pioniere entwickelt wurde. Als Navigationsinstrument soll sie die ganze Wertschöpfungskette erfassen, anhand der Parameter Klima, Biodiversität, Boden, Wasser, Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum. Durch die Annäherung an die tatsächlichen Produktionskosten und -leistungen ermöglicht die Blume es Landwirten, den Stand ihres Nachhaltigkeitsengagements zu überprüfen, es zu verbessern, zu vermarkten und so auch finanziell zu belohnen. Der Bio-Importeur Eosta hat in den Niederlanden und Deutschland mit seinem Lebensmittel-Transparenzsystem ‚Nature & More‘ begonnen, die Prinzipien des True Cost Accounting nach der Nachhaltigkeitsblume anzuwenden.
Schon seit 2012 arbeitet die niederländische Organisation True Price daran, die wahren Kosten unterschiedlicher Produkte zu errechnen, und hat vier Review-Studien zu den Kosten von Kaffee, Kakao, Baumwolle und Tee erstellt. 14 verschiedene Arten von externen Kosten hat sie dabei nach Umwelt- und Sozialkosten aufgeteilt.
Konsumenten sensibilisieren
Auch die Universität Augsburg ist in der Kostenforschung aktiv. Im Durchschnitt sollten die Lebensmittelpreise in Deutschland um 62 Prozent höher liegen, stellte Tobias Gaugler vom Institut für Materials Resource Management 2018 fest.
Bekanntheit erlangte eine Studie der Universitäten Augsburg und Greifswald in Kooperation mit dem Discounter Penny, die im September 2020 veröffentlicht wurde. Dabei wurden der Stickstoffeintrag (also die Düngemittelproblematik), die Treibhausgasemissionen (THG), die Landnutzungsänderungen sowie die direkt und indirekt verwendete Energie untersucht. Nicht miteinbezogen – mit Begründung einer noch unzureichenden Datenlage – wurden Pestizide und Antibiotika. Auch die Parameter Tierwohl und faire Arbeitsbedingungen blieben bei der Berechnung außen vor. Dennoch hatten im Ergebnis Bioprodukte insgesamt deutlich geringere Folgekosten als ihre konventionellen Pendants. Vor allem im tierischen Bereich fiel der geringere Einsatz von industriell produziertem Kraftfutter ins Gewicht.
„90 Milliarden externe Kosten für Schäden an der Umwelt muss die deutsche Landwirtschaft auf ihren Buckel nehmen“, so rüttelt Markus Wolter von Misereor auf. Dabei sei es im Koalitionsvertrag der neuen Regierung explizit vorgesehen, ‚ökologische und ggf. soziale Werte in die Rechnungslegung zu integrieren.‘
Das Penny-Beispiel kritisierte Wolter als nicht wissenschaftlich genau genug. Was ist die Alternative? „Freiwillige Mindeststandards reichen nicht“, stellt Wolter fest. Es brauche andere Wirkmechanismen und es gelte, die bereits geleistete methodische Vorarbeit dazu zu nutzen. „Landwirtschaft funktioniert nicht in den Jahresrhythmen der Bilanzierung, man muss in Jahrzehnten denken“, meint er. Dann könne True Cost sich als wichtiger ökonomischer Impuls auf die gegenwärtige Krise erweisen.
Angesichts des ambitionierten EU-Lieferkettengesetzes gab es massive Kritik von Seiten der Wirtschaft. „Dabei war das einfach nur Ordnungsrecht“, so Wolter. „Menschenrechte gehören akzeptiert, Punkt.“ Bei allem, was über den rechtlichen Rahmen hinausgeht, müsse man die Sprachen der Bilanzen sprechen und über die Logik der Marktwirtschaft arbeiten. Dabei seien freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, und umgingen absichtlich das komplexe Thema der Preisfindung.
„True Cost Accounting ist ein Hebel gegen kapitales Marktversagen.“
True Cost Accounting: Auf der Suche nach einem betriebswirtschaftlichen Kalkulationsmodell
Im März 2022 hat die True Cost Initiative, gemeinsam mit Soil & More Impacts und ‚TMG – Think Tank for Sustainability‘ ein Handbuch zu Wahren Kosten herausgegeben. Pilotpartner waren etwa der Bio-Obst-Importeur Eosta, der Fairtrade-Pionier Gepa, die GLS Bank, die Bio-Hersteller Hipp und Lebensbaum und andere.
Wie lassen sich die Folgekosten der (Lebensmittel-)Produktion für alle möglichst einheitlich und objektiv internalisieren? True Cost Accounting will dafür ein betriebswirtschaftliches Kalkulationsmodell finden, eine Form der Kostenrechnung, die die verursachten gesamtgesellschaftlichen Kosten miteinbezieht.
„Im ersten Schritt geht es erstmal darum, Landwirten eine Methodik an die Hand zu geben, mit der sie ihre Externalitäten bestimmen können“, klärt Olivia Riemer, die die True Cost Initiative leitet, auf. Im zweiten Schritt stehen die Fragen im Zentrum, wie sich welche Spielregeln ändern lassen und auf welchen Ebenen sie am besten umsetzbar sind.
Ein Methodenbeispiel zur Berechnung ist die Vermeidungskostenmethode, die sich an der Frage orientiert „Was würde das Anderstun kosten?“ Dabei kann man etwa ein Kohlekraftwerk mit einem Windkraftwerk vergleichen und fragen, bei welcher Form der Energiegewinnung mehr CO2-Kosten anfallen. Unternehmen könnten die Ergebnisse wie Primärkostendaten verwenden, schlägt Riemer vor.
Nachdem verschiedene Wissenschaftler gemeinsam mit dem UN Environment Food Framework mehrere 100 Indikatoren auf ihre Preistauglichkeit getestet haben, entschieden sie sich am Ende für 16 von ihnen, die sie in Naturkapital (etwa Klima und THG, Wasserverschmutzung, Boden und Ökosysteme), Humankapital (etwa Gesundheit und Arbeitsbedingungen) und Sozialkapital (Gleichstellung und Menschenrechte) aufgeteilt haben.
Finanzielle Kennzeichen für mehr Glaubwürdigkeit
„Wir wollen keinen neuen Nachhaltigkeitsstandard schaffen“, stellt Tobias Bandel, Gründer von Soil & More Impacts, fest. Vorhandene Parameter aus Nachhaltigkeitsberichten sollen lediglich in finanzielle Kennzeichen über- setzt werden, sodass sie greifbarer werden und mehr Glaubwürdigkeit erlangen. So könnte TCA auch zur Entdogmatisierung beitragen. In der Praxis wäre sowohl die Umsetzung als Anreizsystem, als auch das Durchsetzen von Verboten mit Hilfe des TCAs möglich.
In zwei Pilotphasen sind für das Handbuch über Fragebögen bei den Erzeugern 20 bis 30 internationale Lieferketten getestet worden. Das Ergebnis von allen Auswertungen sei ein konsolidiertes Zahlenwerk, das zu 70 bis 80 Prozent übereinstimmt. „So groß sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Experten gar nicht.“
Was kann jede*r tun, damit es schneller geht?
Erzeuger und Verarbeiter können auf Bio und Fairtrade setzen und damit bereits etablierte Modelle mit geringeren sozialen und Umweltkosten nutzen. Viele haben angekündigt, ihre Produkte mit Informationen zum CO2-Fußabdruck versehen zu wollen.
Händler können mit innovativen Konzepten zur Sensibilisierung der Konsumenten vorangehen. Etwa nach Beispiel des schwedischen ‚Carbon Stores‘, der nach Angaben von ‚food unfolded‘ quasi eine interne CO2-Steuer eingeführt hat, durch die Lebensmittel mit hoher Kohlendioxidbelastung teurer sind als andere. Oder über Apps, mit denen Kunden den geschätzten CO2-Abdruck ihrer Produkte nachsehen können.
Auf politischer Ebene raten deutsche Wissenschaftler da-zu, eine allgemeine CO2-Steuer einzuführen. Sie setzt ein einheitliches und zuverlässiges Berechnungsmodell des CO2-Ausstoßes wie das True Cost Accounting voraus, und würde Unternehmen dazu veranlassen, ihre Umweltkosten zu dezimieren.
Das TCA-Handbuch ist unter http://tca2f.org kostenlos verfügbar.
Lena Renner