Editorial
Editorial Ausgabe 111/April 2022, 2. Quartal
Liebe Leserinnen, liebe Leser.
In Corona-Quarantäne versetzte Millionenstädte in China und geschlossene Häfen blockieren seit Pandemie-Beginn den globalen Warenfluss derart, dass Rohstoffknappheit und Preisexplosionen die Folge sind. Jetzt kommt die Putin’sche Politik dazu. Sie bringt für Millionen von Menschen in Europa lange überwunden geglaubtes Leid und blockiert den Zugang zur Kornkammer Europas und der Welt.
Die Schwarzerderegion ist gerade für den Bioanbau eine große Hoffnung. Die von der EU vorgegebene Transformation der Lebensmittelproduktion zu natürlichen, besseren Qualitäten hat durch die Reaktion der Bevölkerung angesichts der Pandemie enorm an Fahrt zugelegt.
Jetzt poppt die Knappheit an allen Ecken zum großen Geschäft auf. Im Umfeld von steigenden Lebensmittelpreisen wird auch die Bio-Preispolitik durcheinander gewirbelt. Hält die resilientere Struktur der Bioproduktion den Verlockungen des schnellen Geldes eher stand als der offene Markt? Noch ist es zu früh für zukunftsfähige Aussagen. Bis zur Biofach im Juli – und sie kommt in diesem Jahr doch zur genau rechten Zeit – dürften erste Erkenntnisse aufkeimen.
Der bioPress-Verlag arbeitet seit fast drei Jahrzehnten an der Biomarktentwicklung auf allen Vertriebswegen. Vor 20 Jahren noch undenkbar oder bestenfalls in den allerersten Anfängen sind heute bei vereinzelten Lebensmittelkaufleuten Bio-Angebote von bis zu 15.000 Bio-Artikeln inklusive Naturdrogeriewaren zu finden. Vor einem Jahr in Rostock kennengelernt und darüber berichtet, schreiben wir in dieser Ausgabe über die Entwicklung seither und wo das hinführen soll. Machbar mit der herkömmlichen Vorstufe? Nicht so recht. Und, wäre ein Shop-in-Shop-System, wie es Edeka Hamburg forcieren will, eine alternative Lösung?
Wie wäre es denn mit Eigeninitiative – das, was erfolgreiche Kaufleute auszeichnet? Die Kirche im Dorf lassen und die Vorstufe nutzen, wofür sie gedacht ist: Industrieware organisieren. Parallel die Eigenentwicklung der Sortimente über den Standard hinaus forcieren und das auf die vorhandene Kundschaft angepasst, könnte die Dynamik der Bio-Marktentwicklung in Netzwerken aufstellen und nicht wieder zentralistisch.
In der Retrospektive wissen wir, dass Zentralismus als Stärke der Kaufleute gegenüber der Lebensmittelindustrie gedacht war. Doch die Zeiten haben sich verändert. Zentralen sind zum Selbstzweck geworden. IT-Netzwerke können heute die Kraft von Zentralen übertreffen. Die Systeme müssen nur neu gedacht werden, alte Zöpfe abgeschnitten und Machtpositionen zu Gunsten dezentraler Strukturen aufgegeben werden. So die Gedanken auf den Öko-Marketingtagen auf Schloss Kirchberg.
Der Handel lebt heute ja auch nicht mehr wie in Zeiten der Piraterie. Erneuerung und Neuverteilung, Stärken verbinden durch strategische Partnerschaften, regionale kurze Wege oder direkte Lieferkontakte ohne Umwege, um nur einige zukunftsorientierte Faktoren zu nennen. Eine Sendung Orangen direkt vom Erzeuger in Südspanien für 14 Euro Fracht lohnt sich, wenn die Mengen stimmen. Da kommt dann mehr Geld direkt beim Erzeuger an. Und der liefert frisch geerntet beispielsweise ein Kilo Avocados für 7,20 Euro, nicht 1,80 das Stück. Das lohnt sich für beide Seiten. Bei Orangen ist die Preis/Leistung etwas differenzierter zu sehen. Aber: Die Frische stimmt allemal!
Ein Ergebnis der modernen Kommunikation, die auch Lebensmittel-Erzeuger näher zum Verbraucher bringen kann oder umgekehrt: den Verbraucher näher aufs Feld. Wie das Volkert Engelsmann bei Eosta seit vielen Jahren praktiziert. Ein Code auf dem Produkt zeigt den Kunden mithilfe des Internets die Produktion überall auf der Welt. Da stimmen dann auch die Versprechen der Produktionsbedingungen, deren Aufwand bisher nur bei wenig Einkäufern auf Gegenliebe stößt.
Aber auch konventionelle Produzenten machen gute Erfahrungen mit Bioanbau und Öko-Fleischverarbeitung. Beim Gemüsespezialisten Behr AG kennt man sein Gemüse genau: Was bei der Auspflanzung nicht an Nährstoffen schon im Boden ist, braucht man dann auch nicht mehr 'nachdüngen'. Wer Pflanzen kennt, weiß, sie richten ihr Wachstum auf die Ausgangssituation aus und lassen sich später nicht mehr beeinflussen.
Der ehemalige Bioland-Präsident Thomas Dosch, von den Grünen ins Landwirtschaftsministerium Niedersachsen geholt, ist jetzt bei Tönnies für Nachhaltigkeit zuständig. Eine bessere Tierhaltung ist für Produzenten in Deutschland unumgänglich. Dosch hat sich in die Höhle des Löwen gewagt.
Trotz vieler Anfeindungen muss Tönnies die Transformation zugetraut werden. Wie sonst sollte die Welt mit dem Kochtopf gerettet werden?
Während ein Bodenentdeckungspfad der IG Gesunder Boden das Fundament der Öko-Lebensmittelherstellung thematisiert, haben wir im bioPress-Verlag ein 120 Quadratmeter großes Hochbeet fertig gestellt: Endlich sind 25 Zentimeter schwarze Erde nach dem Terra Preta-Prinzip verfüllt. Das Experiment mit dem Perpetuum mobile im Gemüse-Eigenanbau kann nach 18 Monaten Plan- und Bauzeit beginnen.
Erich Margrander
Herausgeber